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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder
Autoren: Hartung Hugo
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Jahre jünger als wir und sehr hübsch. Sie stach unbegreiflich von den Meisegeierbuben ab, die, bis auf eine Ausnahme, das flache stupsnäsige Pfannkuchengesicht ihrer Mutter geerbt hatten. Einen gerichtsnotorischen Vater gab es bei keinem aus der Brut, aber die dunkle, etwas wilde Schönheit des Mädchens Evelyna ließ noch nach Jahren besorgte Ehefrauen nachrechnen, wo sich ihre Männer vor der um ein Dreivierteljahr vermehrten Lebensjahreszahl des einzigen weiblichen Meisegeiersprosses aufgehalten haben mochten. Als ob es nicht auch einen bescheidenen Fremdenverkehr sowie einen gewissen industriellen Handel und Wandel in unserem Städtchen gegeben hätte …
    Ich bedürfte der Aufzeichnungen von Bruno Tiches nicht, um zu wissen, daß die Sache mit Evelyna sich an einem traumhaft schönen Maientag begab und daß alle Kirschbäume an der Mauer des Bauhofs, jenseits der Gymnasiumsgasse, blühten. Es war eine träumerisch träge Stimmung, in der wir eben, nach den Dirigierzeichen des Primus, unsere lateinischen Regelsprüchlein im schläfrigen Chor zu psalmodieren begonnen hatten:
    »A, ab, abs sowie auch de,
Coram, clam, cum, ex und e,
Sine, denus, pro und prae
Cum ablativo sunt junctae.«
    In diesem Augenblick klopfte es plötzlich an die streng geschlossenen Fenster – noch heftiger als sonst. Der übliche Frage-Antwort-Dialog begann, und, nach altem Zeremoniell, sausten drei Schüler durchs Fenster und Gorgo aus der Tür. Neu war nur, daß Bruno Tiches sogleich wieder im Fensterrahmen auftauchte – und daß er Evelyna nach sich zog! Uns kugelten beinahe die Augen heraus, als ein Paar sehr hübscher Mädchenknie auf unserer grauen, abgeblätterten Fensterbank erschien, und als alles Dazugehörige, nicht minder Hübsche, mit einem eleganten Schwung in das knäbische Klassenzimmer hüpfte.
    Es war vergleichsweise so sensationell, wie wenn heutzutage heimlich eine der Leinwandhalbgöttinnen unseres Zeitalters – die Lollobrigida oder Marilyn Monroe – bei einer Arbeitstagung seriöser Altertumsforscher unter dem Konferenztisch versteckt würde.
    Alle blühenden Kirschbäume und die unbegreifliche Poesie dieses Frühlings 1913 kamen mit Evelyna zu uns und übten ihre Magie auch dann noch, als längst der stockschwingende Gorgo mit dem Verfolgungskommando zurückgekehrt war und der Primus sein Zeichen zur Wiederholung des ›a, ab, abs‹ gegeben hatte.
    Nun aber zelebrierten wir die Regeln mit einer inneren Beteiligung, als hätten wir Minnelieder zu deklamieren. Unsere Phantasie schlug hohe Brandungswellen und bedrängte das Spiel unserer Adamsäpfel. Ja, wir mußten an uns halten, um nicht allzuoft und auffällig die Köpfe nach der hintersten Bank umzuwenden, unter der wir die sträflich hübsche Evelyna Meisegeier in zusammengekauerter Haltung sitzen wußten.
    Einmal entstand sogar eine gefährliche Situation, als ›jener Borsche im Hintergrund‹ das Plusquamperfekt eines unregelmäßigen Verbs bilden sollte und, zusätzlich zu seinen gewohnt vergeblichen Bemühungen, ungewohnte Gesichtsfaxen schnitt, so daß Gorgo sich erhob und mit geschwungenem Stock auf den Weg machte … Hinterher erst haben wir von Bruno erfahren, daß ihn in diesem gefährlichen Augenblick das Mädchen Evelyna unter seiner Bank in die Wade gezwickt hatte.
    Auch diese seltsam beklommene Lateinunterrichtsstunde ging schließlich zu Ende, und als Professor Zindler die Klasse verlassen hatte, durften wir noch einmal, von rückwärts und nicht minder erfreulich, die holde Ursache unserer Unruhe auf dem Fensterbrett bewundern, ehe sie der Maienmittag wieder zu sich nahm. Sie blieb ein einmaliges, nicht wiederholbares Ereignis im ständigen Meisegeier-Repertoire.
    Was mich in Bruno Tiches' Aufzeichnungen am meisten ärgert, ist die Tatsache, daß er diese hübsche Episode unseres Pennälerlebens zu seinen Gunsten ungebührlich ausgeschmückt hat. Seine Behauptung, er habe mit Evelyna zusammen während der ganzen Lateinstunde eng umschlungen unter der Bank gekauert, macht manche späteren, für mich nicht so unmittelbar beweisbaren Prahlereien des Dahingegangenen fragwürdig. Ich überlege mir daher sehr, ob ich die Geschichte von Evelyna Meisegeier – obwohl ich sie selbst in so liebenswürdig lebendiger Erinnerung habe – überhaupt mit in den Tatsachenbericht aufnehmen soll.
    Daß ich dagegen die Luftballongeschichte aus dem gleichen Jahr bringen muß, ist selbstverständlich. Denn sie erscheint mir als eine der drei
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