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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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frei!
    Ob man Gedankengängen wie denen von Wolf Singer folgen mag oder nicht, ist bei der Frage »Gibt es Freiheit?« letztlich fast egal. Denn Singer selbst stellt – wie auch andere Hirnforscher – fest: Es gibt in jedem Fall einen freien Willen. Das klingt zwar nach einem kompletten Widerspruch zu dem, was Singer und andere Hirnforscher sonst noch so schreiben. Doch dieser Widerspruch lässt sich auflösen.
    Freier Wille, meint Wolf Singer, existiert als gesellschaftliche Übereinkunft. Auch er ist sozusagen eine Norm. Die meisten modernen Gesellschaften gründen auf der Idee, dass sich der einzelne Mensch in vielerlei Hinsicht frei entscheiden kann. Oder wie es ein Sprichwort sagt: Jeder ist seines Glückes Schmied. Dieser Spruch heißt ja nichts anderes, als dass jedem alle Möglichkeiten offenstehen. Für welche Möglichkeit er sich am Ende entscheidet, ist seine Sache.
    Es liegt zwar auf der Hand, dass dieses Sprichwort so nicht stimmt. Stellen wir uns hundert Kinder vor, deren Eltern von Hartz IV leben. Diese Kinder beschließen an ihrem zehnten Geburtstag: »Wenn wir 40 sind, wollen wir alle ein schönes Haus haben, das uns selbst gehört. Wir wollen alle Abitur gemacht haben und auch einen prima Berufsabschluss. Wir wollen nicht rauchen, weil das unserer Gesundheit nicht guttut. Und überhaupt wollen wir so schön und glücklich sein wie die Leute, die man in der Werbung sehen kann.« Man kann darauf wetten, dass nur bei einem geringen Teil dieser Kinder aus Hartz-IV-Familien alle diese Wünsche in Erfüllung gehen. Weil sie sich mit ihrem freien Willen entschieden haben, doch nicht so viel zu verdienen? Weil sie sich frei entschieden haben, ein eher ungesundes Leben zu führen?
    Stellen wir uns hundert andere Zehnjährige vor. Deren Eltern leben in schönen Villen, haben vielleicht Ferienhäuser. Diese Eltern haben alle Abitur und auch tolle Berufsabschlüsse. Von den hundert Zehnjährigen aus diesen Familien wird mit Sicherheit der Wunsch »Mit 40 will ich wohlhabend und gut ausgebildet sein« in weit mehr Fällen erfüllt als bei den Kindern aus den Hartz-IV-Familien. Die Statistiken zeigen auch ganz klar: Von diesen Kindern werden später weniger zu Rauchern. Denn Rauchen ist inzwischen eher etwas für Hauptschüler als für Gymnasiasten. An Hauptschulen greifen doppelt bis dreimal so viele Jugendliche zur Zigarette wie an Gymnasien, das zeigen groß angelegte Umfragen immer wieder.
    Mit der Freiheit, sein Glück selbst zu schmieden, ist es also nicht ganz so weit her. Dennoch wird den Hartz-IV-Kindern bei jeder Gelegenheit gesagt: Wenn ihr euch nur ordentlich anstrengt, dann könntet ja auch ihr reich und gut ausgebildet werden. Es verbietet euch niemand. Es gibt kein Gesetz, in dem steht: »Für Arme ist Erfolg verboten.« Also bleibt den Hartz-IV-Kindern nicht viel anderes übrig, als bei diesem Spiel mitzuspielen. Sie ahnen, dass sie nicht wirklich frei sind beim Schmieden ihres Glückes. Aber sie müssen eben zusehen, was sie mit dem Hammer anfangen, den man ihnen in die Hand drückt. Es gilt also die gemeinsame Übereinkunft »Wir sind alle frei«. Und weil das so ist, wird jeder Einzelne dazu verpflichtet, die Verantwortung für seine Entscheidungen zu übernehmen. Selber schuld, wenn das Leben nicht ganz so toll verläuft.
    Alles neu
    Dass die gesellschaftliche Übereinkunft »Jeder ist frei« für alle Menschen gelten soll, ist noch keine sonderlich alte Entwicklung. Sklaven, die ihrem Besitzer ähnlich gehörten wie heute Kühe oder Katzen, gab es nicht nur im alten Rom oder Ägypten. In den USA ist es gerade mal rund 150 Jahre her, dass die Sklaverei abgeschafft wurde. In Brasilien war es erst 1888 so weit. Es ist also nicht schwer, in Brasilien Leute zu finden, deren Großeltern noch Sklaven waren.
    Auch in Europa, also auch in Deutschland, gab es jahrhundertelang die Leibeigenschaft . Das heißt, ein großer Teil der Bevölkerung konnte in vielen Fragen keine eigene Entscheidung treffen. Wer um 1300, 1500 oder auch 1700 in Deutschland als Bauer geboren wurde, konnte nicht frei wählen, wo er leben wollte, was er arbeiten wollte, wen er heiraten wollte, welche Religion er ausüben wollte. Damals war die Gesellschaft nach dem Prinzip aufgebaut, dass die Menschen nicht gleich sind und keine gleichen Rechte haben. Schon gar nicht das Recht auf freie
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