Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich
Autoren: Nikolaus Nuetzel
Vom Netzwerk:
aktiven Zeit offen dazu, dass sie lesbisch sind. Schon beim Männer-Tennis ist es mit der Offenheit allerdings vorbei. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass unter den internationalen Stars des Tennissports kein einziger Schwuler ist. Aber auch hier heißt es: Darüber redet man nicht.
    Ist schon okay – Kleine Wortkunde der Toleranz
    Die meisten europäischen Staaten oder auch die USA sind tolerante Länder, so kann man immer wieder lesen – denn sie stellen beispielsweise Schwule rechtlich genauso wie Heterosexuelle. Schwule werden also toleriert . Wenn man dieses Wort so verwendet, muss allerdings eines klar sein: Tolerieren kann man – von der ursprünglichen Wortbedeutung her – nur etwas, das eigentlich stört. Tolerare nannten die Römer das, was heute mit »ertragen« oder »erdulden« ins Deutsche übersetzt wird. Aber was gibt es denn daran zu ertragen , wenn die einen sich anders lieben als die andern? Mag sein, dass jemand, der direkt unter einem Schlagzeuger wohnt, allen Grund und alles Recht hätte, den Schlagzeuger über sich um Ruhe zu bitten, wenn der mitten in der Nacht trommelt. Aber er toleriert den Musiker halt. Hier ist klar: Der Schlagzeuger tut etwas Störendes. Der Nachbar verzichtet darauf, sich über die Störung zu beklagen – was er berechtigterweise tun könnte. Er erträgt die Trommelei. Hier geht es also tatsächlich um Toleranz . Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, warum sich irgendjemand mit Recht davon gestört fühlen sollte, wenn in der Nachbarwohnung Schwule leben. Also hat es nichts mit Toleranz zu tun, wenn Schwule die gleichen Rechte haben wie alle andern auch. Genauso wie es nichts mit Toleranz zu tun hat, wenn Brillenträger oder Glatzköpfe die gleichen Rechte haben wie alle andern auch.
    Die gesellschaftlichen Regeln zur Frage »Darf ich Männer lieben, wenn ich selbst ein Mann bin – darf ich Frauen lieben, wenn ich selbst eine Frau bin?« haben sich in den vergangenen Jahren rasant gewandelt. Und das sind Regeln, die vorher jahrhundertelang wie in Stein gemeißelt waren. Man muss aber nicht lange suchen, um auch andere Regeln zu finden, die Menschen jahrhundertelang für unumstößlich hielten – und die plötzlich sehr, sehr wenig gelten. Beispielsweise die Regel, wie die richtige Antwort auf die Frage lautet: »Muss ich an Gott glauben?«
    Leben ohne Gott? Leben ohne Gott!
    Vor hundert Jahren waren in ganz Europa die allermeisten Menschen Kirchenmitglieder – oder sie waren Mitglieder einer jüdischen Gemeinde. Egal ob im Rheinland, in Sachsen oder Tirol: Erwachsen werden hieß mit religiöser Erziehung aufwachsen. Vor allem auf dem Land gehörten In-die-Kirche-gehen und Beten so fest zum Alltag wie heute das Zähneputzen.
    Die Menschen, die vor hundert Jahren in Europa lebten, hätten sich wahrscheinlich nicht vorstellen können, dass von ihren Urenkeln viele nicht getauft werden. Und sie hätten sich nicht vorstellen können, dass von den Urenkeln, die getauft werden, viele als Erwachsene aus der Kirche austreten. Rund sechs von zehn Deutschen gehören zwar noch einer christlichen Kirche an, aber vor allem in Großstädten und in vielen Teilen Ostdeutschlands ist nicht mehr Christsein die Norm, sondern das Nicht-Christsein.
    Kommen wir auf Jana zurück, die wir am Anfang des Buchs kennengelernt haben. Stellen wir uns vor, wir reden mit ihr nicht über Cosplay, sondern über Gott. Über den Tod, die Seele. Wir fragen Jana, ob sie an Gott glaubt, an ein Leben nach dem Tod. Vor hundert Jahren hätte sie es leicht gehabt, passende Antworten zu geben. Sie hätte jemandem, den sie neu kennenlernt, selbstverständlich geantwortet, dass sie fest an den dreieinigen Gott der Christen glaubt, an die Auferstehung der Toten. So wie es eben im christlichen Glaubensbekenntnis steht. Natürlich hat auch vor hundert Jahren so manche 18-Jährige an diesem Glaubensbekenntnis gezweifelt. Aber sie hätte kaum offen über diese Zweifel gesprochen. Schon gar nicht mit Fremden.
    Bei Kirchentagen, egal ob evangelisch oder katholisch, kommen zwar immer noch beträchtliche Massen auch junger Menschen zusammen. Aber Christsein im Alltag? Ist für junge Leute definitiv keine Norm mehr. Wenn man heute mit 16-, 17-, 18-Jährigen darüber spricht, was sie glauben, ist es leichter, Antworten zu bekommen, woran sie nicht glauben. Zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher