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Der Geheime Orden

Der Geheime Orden

Titel: Der Geheime Orden
Autoren: Ian Smith
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    Prolog
     
    »Junge, wir suchen uns unsere Berufung nicht selbst aus. Sie ist es, die ihren Weg zu uns findet.«
    So hatte es mir einst, als ich noch ein Teenager war, ein alter Mann erklärt, der langsam an seinen Lungenemphysemen starb. Ich muss gestehen, dass ich dem, was er sagte, damals keine besondere Beachtung schenkte. Ich war ein Grünschnabel, er ein alter Mann, und ich dachte, er würde einfach nur in Erinnerungen schwelgen, was er oft tat, wenn er auf der Bank am Ufer des Michigansees saß und den Blick über das tiefe, blaue Wasser schweifen ließ. Einen ganzen Sommer lang sah ich ihn jeden Mittwochnachmittag auf immer derselben Bank sitzen, unter demselben Baum, während er langsam eine Dose kalten Eistee trank. Manchmal hatte ich es zu eilig, um anzuhalten und ihm einen Besuch abzustatten; meistens aber setzte ich mich neben ihn auf die Bank, und wir konnten Stunden miteinander verbringen, ohne dabei viele Worte zu wechseln. An einem brütend heißen Chicagoer Sommernachmittag lehnten wir uns wieder einmal im Schatten zurück und hofften, dass eine steife Brise die drückende Luft vertrieb.
    Das war jetzt fast dreißig Jahre her, aber ich kann immer noch hören, wie die Wellen wütend gegen die Felsen klatschten und die Möwen kreischend ihre Kreise am samtblauen Himmel tanzten, bevor sie abtauchten, um sich einen Fisch aus dem kabbeligen Wasser zu holen. Nach meinem Studium kehrte ich noch einmal in den Park zurück in der Hoffnung, den alten Mann dort auf der Bank zu finden, den Blick auf den See gerichtet und eine Dose Eistee an seinen aufgesprungenen Lippen. An vier aufeinander folgenden Tagen saß ich dort und wartete, ohne dass er auftauchte. Am fünften Tag – ich wollte gerade gehen – erkannte ich eine Frau, die ich schon viele Male dort gesehen hatte, wenn sie mit ihren beiden Irish Settern unterwegs war. Sie ging gebeugter, und statt der Setter führte sie nun zwei Terrier an der Leine, doch die rot leuchtende Haarpracht der Frau war noch genauso wild wie viele Jahre zuvor. Ich fragte sie, ob sie den alten Mann in letzter Zeit gesehen habe, worauf sie erwiderte, dass er im Frühjahr gestorben sei, als er gerade auf eben dieser Bank gesessen hatte. Und ob Sie es glauben oder nicht: Selbst nach so vielen Stunden, die der alte Mann und ich miteinander verbracht hatten, wusste ich noch nicht einmal seinen Namen. Ich nannte ihn immer nur »Alter Mann«.
    Es ist schon verrückt, wie im Laufe eines Lebens längst vergangene Dinge genau dann wieder auftauchen, wenn man es am wenigsten erwartet. Hier sitze ich nun, ein Jahr nach meinem fünfzigsten Geburtstag, in diesem stickigen alten Ballsaal und beobachte die strahlenden Herren der Welt in ihren gestärkten Smokings und mit schwingenden Silbermedaillons am Revers wie siegreiche Generäle, die mit Orden geschmückt aus dem Krieg heimgekehrt sind. Der Zigarrenrauch steigt dick zur Decke empor, zu den verwitterten alten Eichentafeln, die in den vergangenen hundert Jahren Zeugen waren, wie Jungen zu Männern und Männer zu verblassten Erinnerungen wurden. Ich kann das meiste von dem verstehen, was sie reden, und ich höre die Lieder, die sie im Chor singen, und lausche den immer gleichen Anekdoten, die sie wiederkäuen und variieren und mit dem immer gleichen herzlichen Beifall bedenken. Doch für einen großen Teil dieses Abends finde ich mich auf die Bank in den kleinen Chicagoer Park zurückversetzt, von wo ich die Segelboote über den See gleiten sehe und der sanften Stimme des alten Mannes lausche, der mich in die Lektionen einweiht, die ihn das Leben gelehrt hat.
    All die Gespräche, die wir in jenem Sommer geführt hatten, überzeugten mich schließlich, dass es meine Pflicht sei, diese Geschichte zu erzählen. Ich hatte mich viel zu lange zum Schweigen gezwungen – aus Angst, meine Enthüllungen könnten mir jene Menschen zu Feinden machen, die mich einst in ihren prachtvollen Herrenhäusern willkommen geheißen hatten, die mich an ihren üppigen Tafeln bewirtet hatten und ihren Bruder nannten. Wenn ich meine Seele erst einmal bloßgelegt hätte, dann, so wusste ich, würden die Einladungen zu Bällen und Galadiners und anderen Festivitäten austrocknen und verdorren wie ungelesener Wein. Ich hätte mich früher hervorwagen sollen, doch jedes Mal, wenn ich mich an meinen Schreibtisch setzte und über diese unglaublichen Geheimnisse schreiben wollte, die sich hinter einer Fassade aus Macht und Einfluss verbargen, lähmte der Eid, den ich
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