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Zur freundlichen Erinnerung

Zur freundlichen Erinnerung

Titel: Zur freundlichen Erinnerung
Autoren: Oskar Maria Graf
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ZWÖLF JAHRE ZUCHTHAUS
I.
    Weit hatte es der Schlosser Peter Windel im Laufe einer beinahe zwanzigjährigen Arbeitszeit bei der Motorenfabrik Jank gebracht. Als blutjunger Geselle trat er damals in den Dienst und heute war er erster Werkmeister. Seine stumpfe, schweigende Energie, sein fanatischer Lerneifer und seine fast pedantische, aber keineswegs devote Pünktlichkeit hatten ihm Respekt und Achtung verschafft, bei den Arbeitern sowohl, wie bei den Vorgesetzten. Beliebt war er nicht, aber es war keiner in der ganzen Fabrik, der auf ein einmal gesprochenes Wort von Windel nichts gab. Es dauerte allerdings lange, bis er mehr als das Allernotwendigste sprach. Verschlossen, wortkarg und mit jener stoischen Strenge im Gesicht, die schon nahe an der Grenze des Mißmuts steht—so kannte man ihn seit Jahr und Tag. Noch dazu war er keineswegs eine Erscheinung. Von Gestalt klein und nicht gerade kräftig, etwas vornübergebeugt, mit langem Hals, auf dem ein unförmiger, zu großer Kopf mit borstigen, kurzen, schon etwas angegrauten Haaren und weitwegstehenden Ohren saß. Das lederne, scharfe Gesicht machte einen überreizten Eindruck. Die tiefliegenden, unruhigen Augen waren von vielen blutunterlaufenen Äderchen durchzogen. Aus dem schroffen Tal der Backen hob sich die plumpe, unregelmäßige Nase wie ein spitzer Hügel. Griesgrämig griff die massige, verfaltete Stirne von einer Schläfenbucht zur andern.
    Das Merkwürdigste an diesem Antlitz aber war der untere Teil. Er schien fast von einem anderen Menschen zu sein, hatte etwas so Hilfloses und Schüchternes, daß man den Eindruck des Mädchenhaften nicht losbrachte, wenn nicht hin und wieder der geöffnete kleine, aufgeworfene Mund die eingerissenen, stark mitgenommenen Zähne gezeigt hätte. Kam noch hinzu ein ungewöhnlich kurzes, fast in den Hals gefallenes und nur durch einen ganz kleinen Ballen angedeutetes Kinn, aus dem ein spröder Knebelbart spritzte wie eine Rettung. Sonst hätte man buchstäblich der Meinung sein können, nach dem Hals ginge der Mund an.
    Man sagt im allgemeinen, Pedanten, die ihr Dasein fast abgezirkelt genau ableben, hätten ein sorgfältig gepflegtes Erinnerungsvermögen und vergäßen die kleinste Kleinigkeit oft jahrelang nicht.
    Peter Windel hatte keine Erinnerung.
    Schließlich, daß man irgendwie zur Welt kommt, aufwächst und allmählich auf einen Namen hört, dann, in der Schule, noch auf einen zweiten; in die Lehre kommt, etliche Stellen wechselt; daß es einem schlecht oder besser geht, daß man auf einem Gottesacker unter anderen Leuten um ein Grab steht und den Kies auf den Sarg einer toten Mutter oder eines verstorbenen Vaters, eines Bruders oder einer Schwester fallen hört und endlich Hinterlassenschaftspapiere, Notariatszimmer und Pfandbriefe zu sehen bekommt,—das erlebt so ziemlich jeder Mensch auf die eine oder andere Weise.
    Ein schepperndes Weckerläuten. Es ist noch tiefste Nacht draußen, die Fenster sind gefroren und hoch herauf verschneit, man hört auf den weiten, überschneiten Straßen nur seine eigenen Schritte knirschen. Aus Schnee und Dunkelheit kommt langsam eine flimmernde Straßenbahn, dann hinter einer gelben Fensterscheibe ein verschlafenes, ärgerliches Pförtnergesicht, üher einen Hof viele, dumpf trommelnde Schritte und ineinanderschwimmende Laute, endlich einen glatten Hebel in der Hand, —herumgezogen—und ratsch! ein ganzer Hauskoloß surrt bebend auf, die Riemen klatschen, ächzen, es hämmert, feilt, quietscht, kracht, klingt, braust—das wußte Peter Windel seit ewiger Zeit. Zwischendurch freilich auch Sommertage. Ein offenes Fenster, Kühle und Dämmerung und etliche schüchterne Vogeltriller beim Erwachen. Das meiste der zwanzig Jahre—: Nächte über technischen Büchern, Sonntagnachmittage über dem Zeichenblock und manchmal ein Zählen des ersparten Geldes. Öfters als wünschenswert Streitigkeiten, Zänkereien mit der halbtauben, beschränkten Logisfrau können noch hinzugezählt werden. Das war alles. Peter Windel hatte keine Erinnerung. Er kannte nur Interessen.
    Wenn nicht—
    Und hier beginnt diese Geschichte.
II.
    "Sie sind eine Sau! Vier Wochen kein frisches Handtuch, zwei Monate keine Bettwäsche gewechselt! Wenn das nicht aufhört, ziehe ich!" schrie Peter Windel an einem Sonntag seine Logisfrau an.
    Wie immer. Das Weib blieb stehen, glotzte ihn an, verzog das Gesichtzu einer weinerlichen Grimasse und winselte ein paar unverständliche Worte heraus. Und weinte erst leise,
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