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Ich bin ein Stern

Ich bin ein Stern

Titel: Ich bin ein Stern
Autoren: Unbekannt
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teilgenommen.
    Dann, Anfang Mai, rannten die meisten der Bewacher, die nicht im Lager wohnten, weg. Sie ver-
    suchten noch, uns zu töten, bevor sie sich aus dem Staub machten, indem sie wild um sich schossen und Handgranaten in das Lager warfen.
    Ich kletterte auf eine Barrikade, obwohl das verboten war, und spähte hinaus. Eine Handgranate flog an mir vorbei, die mich nur knapp verfehlte. Die plötzliche Explosion erschreckte mich. Ich betastete meinen Kopf, um sicher zu sein, dass er auch noch da war. Dann rannte ich schnell zu meinen Eltern. Papa sagte, wir müssten irgendwo Schutz suchen.
    Viele andere verschreckte Menschen suchten ebenfalls nach einem schützenden Versteck und wir stiegen in einen dunklen Keller hinunter. Je mand hatte eine kleine Kerze dabei, die etwas Licht in den dunklen Raum brachte. Es war voll kommen still. Die Gesichter der Leute spiegelten unsere eigene Furcht wider. Ihre Augen waren wir erstarrt. Ich fühlte mein Herz klopfen. Konnten die anderen das in dieser tödlichen Stille hören?
    Ich hatte mein Gebetbuch mitgenommen. Papa hatte es im Herbst 1944, in der Zeit, in der die häu figsten Transporte nach dem Osten stattfanden, auf dem Abfall gefunden. Ich hatte Papa überredet, es mir zu geben, und versprach ihm, dass ich es immer ehren und hüten würde. Der Name eines Mannes stand darin, und ich fragte mich immer wieder, warum dieses heilige Buch wohl beim Abfall gelandet war. Hatte dieser Mann sein ganzes Vertrauen in Gott verloren, als er aus Theresienstadt in den Osten deportiert wurde? Hatte man ihn gezwungen, das Buch zurückzulassen? Oder war er gar schon im Lager gestorben?
    Ich öffnete das Gebetbuch. Meine Lippen bewegten sich leise, als ich aus ganzem Herzen das Schma Israel las, ein hebräisches Gebet, das Kernstück der jüdischen Glaubenslehre:
    »Höre, Israel! Gott unser Herr ist ein einiger, einziger Gott. Du sollst lieben Gott, deinen Herrn, mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit allem deinem Vermögen. Diese Worte, die ich dir da gebiete, sollst du stets auf deinem Herzen haben. Du sollst sie einschärfen deinen Kindern, sollst davon reden, wenn du sitzest in deinem Haus, wenn du gehest auf der Straße, wenn du
    dich niederlegest und wenn du aufstehest. Du sollst sie knüpfen zum Zeichen um deine Hand, sie sollen sein Stirnband zwischen deinen Augen, du sollst sie schreiben an die Pfosten deines Hauses
    und an deine Thore . « (Deutsche Übersetzung von S. G. Stern)
    Ein tapferer Mann wagte es, gegen neun Uhr
    abends den Keller zu verlassen und hinaufzugehen, um nachzuschauen. Er kam mit der unglaublichen Neuigkeit zurück: »Die Alliierten sind da, wir sind frei!«
    Am Abend des 8. Mai 1945 waren wir endlich von der Sowjetischen Armee befreit worden! Das Erste, was wir taten, war, den gelben Stern von unserer Kleidung zu reißen. Ich hatte drei Jahre in dieser menschlichen Hölle verbracht! Noch immer habe ich die ausgelassenen russischen Soldaten vor Augen, die auf ihren Panzern sangen und tanzten. Wir alle empfanden Freude und Erleichterung, aber auch Schmerz. Viele Fragen blieben offen. Wer von unserer Familie war am Leben geblieben? Was würde uns die Zukunft bringen?
    Nach der Befreiung mussten wir noch eine Weile bleiben, denn eine schwere Typhusepidemie hatte
    sich in Theresienstadt verbreitet. Viele Insassen, die den Krieg überlebt hatten, starben jetzt, nach der Befreiung, an der Krankheit.
    Ich erinnere mich daran, dass ich auf die Barrikade
    kletterte und von einem russischen Soldaten ein Stück Schwarzbrot bekam, das mit einem ganzen Berg Butter beschmiert zu sein schien. Ich kaute vorsichtig, ließ langsam die Butter in meinem Mund schmelzen. War es ein Traum oder war ich wach?
    Trotz der Typhusquarantäne verließen mein Va-ter und ich die Lagermauern auf der Suche nach etwas Essbarem. Wir gingen durch die Felder und pflückten Rhabarber und in den umliegenden Dör-fern bettelten wir um Essen. Zurück im Lager lauschten wir den Rhabarber gegen Brot und Kartoffeln.
    Ich schloss mich einigen anderen Kindern an und zusammen stahlen wir uns in die früheren Naziquartiere
    außerhalb des Lagerkomplexes. Auf dem Boden lagen Patronen herum und Streifen von Kinofilmen, die Seeschlachten zeigten. Mitten in einem wunderschönen Park direkt neben diesen Quartieren entdeckten wir zu unserem Erstaunen ein Schwimmbad. Wie anders musste das Leben außerhalb der Mauern gewesen sein! Während wir
    hungerten, litten und ständig in der Furcht
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