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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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PROLOG
     
    Ich kannte Jenny Zeller nicht sehr gut. Eigentlich kannte sie niemand so richtig. Wahrscheinlich brachte sie sich genau deshalb um.
    Klar, sie hatte Freunde und nahm an vielen Aktivitäten in der Schule teil. Als Kind spielte sie mit ihrer Freundin in den Pausen Einhorn. Daran erinnere ich mich aber nur deshalb, weil ich ihre Freundin süß fand. Als sie in die Junior Highschool kam, zog die Freundin weg, und Jenny kandidierte für die Schülervertretung – nicht als Vorsitzende, sondern für den bescheideneren Posten als Schriftführerin, Schatzmeisterin oder so etwas. Auf ihren Wahlplakaten waren Katzen zu sehen, vermutlich mochte sie Katzen. Sie wurde nicht gewählt. Auf der Highschool verlor ich sie endgültig aus den Augen. Dem Nachruf war zu entnehmen, dass sie die amerikanische Zeichensprache fließend beherrschte, aber so etwas ist kein Grund, sich lange an einen Menschen zu erinnern. Das liest man und sagt: »Oh – ach ja?«
    Anfang Juli schockierte der Selbstmord alle, die davon erfuhren. Jenny hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, sondern ging einfach eines Abends zu Bett, vielleicht ein bisschen melancholischer als sonst, und am nächsten Morgen fand ihre Mutter sie im Bad auf dem Boden. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe schon eine ganze Reihe von Todesfällen miterlebt. Im letzten Jahr konnte ich beobachten, wie mein Nachbar sich Krallen wachsen ließ und drei Leute zerfetzte. Ich habe meinen nahezu geköpften Therapeuten aus einem Auto gezerrt (die Ironie entgeht mir keineswegs) und drei Tage angekettet im Keller eines Verrückten verbracht, der unterdessen mehrere hilflose Frauen folterte und tötete. Ich habe eine Menge Übles und Widerliches gesehen und manchmal auch selbst getan. Um es ganz einfach auszudrücken: Ich habe viel durchgemacht, doch Jenny Zellers Tod war etwas anderes. Obwohl ich ein halbes Dutzend brutaler Morde beobachtet hatte, war dieser einfache Selbstmord, dessen Zeuge ich nicht einmal gewesen war, viel schwerer zu ertragen.
    Sie müssen wissen, dass ich die Menschen nicht umbringen wollte. Ich tat es nur, um meine Heimatstadt vor zwei bösartigen Killern zu beschützen. Dabei musste ich allerdings alle Regeln brechen, die ich für mich selbst aufgestellt hatte. In gewisser Weise habe ich für Jenny Zeller mein Leben riskiert, auch wenn ich sie gar nicht persönlich kannte.
    Aber was nutzt es, einem Mädchen das Leben zu retten, wenn es sich dann selbst umbringt?
     

EINS
     
    Das Telefon klingelte viermal, ehe jemand abhob. »Hallo?« Eine Frau. Perfekt.
    »Hallo.« Ich sprach besonders deutlich, denn ich hielt einen Pullover vor den Hörer, um meine Stimme zu verzerren, und die Frau sollte mich trotzdem gut verstehen. »Ist da Mrs Jane Andelin?«
    »Entschuldigen Sie, wer sind Sie?«
    Ich lächelte. Sie kam sofort zur Sache. Manche plapperten so aufgeregt drauflos, dass ich Mühe hatte, auch nur ein Wort einzuwerfen. Viele Mütter verhielten sich so, wie ich inzwischen wusste. Sie waren den ganzen Tag allein zu Hause und sehnten sich nach jemandem zum Reden. Sie sehnten sich nach der Gesellschaft eines Menschen, der älter als drei Jahre war. Die letzte Frau, die ich angerufen hatte, hatte sich eingebildet, ich würde zur Elternpflegschaft gehören, und hatte fast eine Minute lang geredet, bis ich etwas Schockierendes dazwischengerufen hatte, um sie zu bremsen. Diese hier spielte wunderbar mit.
    Natürlich würde ich gleich auch etwas recht Unerwartetes sagen.
    »Ich habe gestern Ihren Sohn gesehen.« Ich hielt kurz inne. »Ein glückliches Kind.«
    Schweigen.
    Was würde sie darauf antworten?
    »Was wollen Sie?« Sie ließ sich nicht ablenken. Vielleicht reagierte sie ein wenig zu nüchtern. Ob sie Angst hatte? Oder nahm sie es auf die leichte Schulter? Ich musste noch mehr Druck ausüben.
    »Es freut Sie sicher, dass der kleine Jordan nach der Kindergruppe gleich nach Hause marschiert ist – am Drugstore vorbei, die Straße entlang bis zu dem alten roten Gebäude, dann um die Ecke, am Wohnblock vorbei und geradewegs zu Ihrem Haus. Er hat sich an jeder Kreuzung in beide Richtungen umgesehen und mit keinem Fremden gesprochen.«
    »Wer sind Sie?« Ihr Atem ging schneller. Sie bekam es mit der Angst zu tun und war zugleich zornig. Am Telefon konnte ich nicht besonders gut heraushören, was in anderen Menschen vorging, doch Mrs Andelin war so freundlich gewesen, das Gespräch im Wohnzimmer entgegenzunehmen, und so beobachtete ich sie durch
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