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Blutnacht

Blutnacht

Titel: Blutnacht
Autoren: Jonathan Kellerman
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    Der Zeuge erinnert sich folgendermaßen daran:
    Kurz nach zwei Uhr nachts verlässt Baby Boy Lee das Snake Pit durch den hinteren Notausgang. Der elektrische Anschluss über der Tür ist für zwei Birnen ausgelegt, aber eine fehlt, und das Licht, das schwach und indirekt über dem mit Müll übersäten Asphalt flackert, wirft eine schmierige, senffarbene Scheibe von vielleicht einem Meter Durchmesser auf den Boden. Ob die fehlende Glühbirne mit Absicht fehlt, wird Mutmaßung bleiben.
    Es ist Baby Boys zweite und letzte Pause des Abends. Sein Vertrag mit dem Nachtclub verpflichtet ihn zu zwei einstündigen Auftritten. Lee und die Band haben wegen Baby Boys ausgedehnter Gitarren- und Harmonika-Solos ihren ersten Auftritt um zweiundzwanzig Minuten überzogen. Das Publikum, ein fast volles Haus von 124 Zuhörern, ist entzückt.
    Das Pit ist weit entfernt von den Läden, in denen Baby Boy in seiner Blütezeit spielte, aber auch er scheint glücklich zu sein.
    Es ist eine Weile her, dass Baby Boy irgendwo auf der Bühne gestanden und vernünftigen Blues gespielt hat. Die einhellige Meinung später befragter Zuhörer lautet: Niemals hat der große Mann sich besser angehört.
    Man behauptet, Baby Boy habe sich endgültig von einer ganzen Reihe verschiedener Suchtkrankheiten befreit, aber einer Droge bleibt er weiterhin verfallen: Nikotin. Er raucht drei Packungen Kools am Tag, nimmt tiefe Lungenzüge, während er auf der Bühne steht, und seine Gitarren sind für die schwarzen, rautenförmigen Brandmale bekannt, die ihre lackierte Holzoberfläche verunzieren.
    Heute Nacht ist Baby Boy jedoch ungewöhnlich konzentriert gewesen und hat brennende Zigaretten selten von dem Platz entfernt, wo er sie für gewöhnlich hinklemmt: direkt oberhalb des Schalllochs seiner 62er Telecaster unter den drei höchsten Saiten verkeilt, langsam vor sich hin glimmend.
    Also ist es wahrscheinlich die Nikotin-Sucht, die den Sänger veranlasst, in dem Moment von der Bühne zu springen, in dem er seine letzte Note gespielt hat, und sich ohne ein Wort zu seiner Band oder sonst jemandem mit seiner massigen Gestalt zur Hintertür hinauszustürzen. Der Riegel schnappt hinter ihm zu, aber es ist unwahrscheinlich, dass er es überhaupt bemerkt.
    Die fünfzigste Kool des Tages ist angesteckt, bevor Baby Boy die Gasse erreicht. Er inhaliert mentholisierten Rauch, während er die Scheibe schmutzigen Lichts betritt und wieder verlässt.
    Der Zeuge ist sicher, dass er einen Blick auf Baby Boys Gesicht in dem Licht erhascht hat und dass der große Mann am Schwitzen war. Falls das stimmt, hatte sein Transpirieren vielleicht nichts mit Angst zu tun, sondern resultierte aus Baby Boys Übergewicht und den Kalorien, die er mit seiner Musik verbrauchte: Seit 83 Minuten ist er herumgehüpft und hat geschrien und sich verausgabt, seine Gitarre liebkost und das Publikum am Ende des Programms mit einem feurigen, die Kehle zerfetzenden Vortrag seines Erkennungssongs in Raserei versetzt, einer elementaren Bluesnummer in B, die bezeugt, wie sich Baby Boys Stimme von einem unhörbaren Murmeln zu einem qualvollen Wehklagen steigert.
     
    There’s women that’ll mess you
    There’s those that treat you nice
    But I got me a woman with
    A heart as cold as ice.
    A cold heart,
    A cold, cold heart
    My Baby’s hot but she is cold
    A cold heart,
    A cold, cold heart
    My baby is murdering my soul …
     
    Von diesem Punkt an werden die Einzelheiten undeutlich. Der Zeuge ist ein von Hepatitis heimgesuchter Obdachloser namens Linus Leopold Brophy, der neununddreißig Jahre alt ist, aber wie sechzig aussieht, an Blues oder irgendeiner anderen Art von Musik kein Interesse hat und sich zufällig in der Gasse aufhält, weil er den ganzen Abend Südwein der Marke Red Phoenix getrunken hat und ihm der Müllcontainer fünf Meter östlich der Hintertür des Snake Pit Schutz bietet, sein Delirium tremens auszuschlafen. Später wird mit Brophys Einverständnis eine Blutprobe gemacht werden, die 2,4 Promille ergibt, das Dreifache der gesetzlichen Obergrenze für Autofahrer, aber Brophy zufolge war er »kaum bedröhnt«.
    Brophy behauptet, schläfrig, aber wach gewesen zu sein, als ihn das Geräusch der sich öffnenden Hintertür aufschreckt und er einen großen Mann in das Licht hinaustreten und anschließend in der Dunkelheit verschwinden sieht. Brophy behauptet, sich an das glühende Ende der Zigarette des Mannes zu erinnern, das leuchtete »wie Halloween, wissen Sie – orangerot,
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