Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
Vom Netzwerk:
Frische deiner Jugend. Auch du fandest mich schön, du warst zufrieden, du hattest Nelly Arcan.
    Wir machten uns auf den Weg, wir unterhielten uns über Filme, ich kann mich daran erinnern, weil du eine Melodie aus einem Western von Sergio Leone vor dich hin gepfiffen hast, als wir die Rue Saint-Dominique nach Norden gingen, und mich dabei aus dem Augenwinkel ansahst, bis uns der Schrei einer Frau aufschrecken ließ.
    Es war kein Angstschrei. Es war nicht der Schrei einer Frau, die geschlagen oder mit einem Messer bedroht wird, es war ein rauher, lang gezogener Schrei, der in einem atemringenden Schluchzen ausklang.
    Wir blieben stehen und schauten in die Richtung, aus der der Schrei kam. Ein Dutzend Leute hatten sich um die Szene gesammelt, ein paar davon aus dem Nova. Beim Näherkommen sah ich zwei Frauen neben einer dritten hocken, die auf dem Boden saß, den Rücken an die Auslage eines Sexshops gelehnt, in der drei Schaufen-sterpuppen mit dem gleichen Body aus rosa, rotem und schwarzem Leder standen. Automatisch suchte ich nach der Leiche desjenigen, den sie verloren hatte, aber es gab keine Leiche, es gab nur diesen immer wiederkehrenden Schrei, der das Herz der Stadt zerriß und in dem atemringenden Schluchzen ausklang, abbrach und nach einem kurzen Verstummen, in das alle glücklichen Erinnerungen unseres Abends stürzten, von neuem anhub, untröstlich.
    Ich bahnte mir mit den Ellbogen einen Weg, um zu sehen, wer die Frau war, die zu einer solchen Verzweiflung fähig war, Gott, wie schön mußte sie sein. Da sah ich etwas, das ich dir verheimlicht habe: Annies rote Pailletten-Handtasche lag vor ihren Füßen auf dem Boden. Ich wußte sofort, daß sie es war, und fragte mich, was du für sie tun würdest, ich dachte an den Platz an deiner Seite, den ich ihr genommen hatte, und an die, die in den Ketten ihres Schmerzes auf dem Trottoir lag. Ich wußte, daß diese Schreie, die sich mit aller Macht gegen den neuen Tag stemmten, auch meine hätten sein können, und daß unsere Geschichte nicht sein durfte, es würde nichts Gutes daraus entstehen.
    Ohne etwas zu sagen, kam ich zu dir zurück; dann ging ich neben dir her, die Handtasche an meine Brust ge-drückt, damit sie dich nicht berührt, wie Annie am Abend vorher, ich konnte sie verstehen. Ich überließ es dem Schicksal, sie dir zu zeigen oder nicht, ich habe mit dem Schicksal um den Schmerz gewürfelt, den ich doch auswendig kannte.
    Als ich zurückkam, hast du ziemlich fertig ausgesehen, ich dachte schon wieder, ich hätte dich verloren. Du bist die ganze Zeit abseits gestanden, du wartetest auf meinen Bericht. Als du fragtest, ob ich etwas gesehen habe, sagte ich nein. Du hast eine Redewendung gebraucht, die mir ebenso banal wie bedeutungsschwanger vorkam: Jeder hat sein Päckchen zu tragen.
    Schweigend nahmen wir unseren Weg wieder auf und hofften, daß das Licht dieses Todes noch Jahre brauchte, um uns zu erreichen. Das Nova war vorbei.

    *

    Am Trennungstag bin ich unangemeldet bei dir aufgetaucht, das war an einem Abend im Februar. Seit drei Tagen hatte ich auf einen Anruf gewartet, dein Schweigen, das die gemeinsam verbrachte Zeit immer mehr verdrängte, rief bei mir furchtbare Bauchschmerzen hervor, aber ich hatte meine Lektion gelernt und machte nicht mehr den ersten Schritt, außer in einem Anfall von Wahnsinn; der Wahnsinn hat mich an diesem Abend zu dir geführt.
    Ich bin zu dir gekommen, damit du mich verläßt, ich wollte mich dir in den Rachen werfen. Ich wußte, daß unsere Beziehung tot war, aber sie hätte noch lange so weitergehen können, es ist gar nicht schwer, eine Frau, die man nicht mehr liebt, in Reichweite zu halten; Gleichgültigkeit läßt einem immer mehr Spielraum in der Liebe.
    Seit einem Monat bestand mein Leben nur noch aus Warten: ich wartete tagelang, abendelang, nächtelang darauf, daß deine Nummer im Display meines Telefons erschien, ich wartete darauf, daß du irgend etwas zu mir sagtest, hallo zum Beispiel, es hätte auch weniger sein können, ein Laut, ein Räuspern, ich wartete auf deine Entscheidung, wo und wann wir uns wiedersehen, ficken, miteinander ausgehen würden, ich wartete darauf, daß du mich in Betracht zogst. Ich bestand nur noch aus Öffnun-gen für dich, die mich zu einer großen Leere machten, und du entferntest dich von mir, um nicht hineingezogen zu werden. Außer auf das Signal deiner Stimme zu warten, machte ich nichts; oft schrieb ich ganze Blätter mit deinem Namen voll und malte mir Szenarien
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher