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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman
Autoren: Aufbau
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    A uf dem fünftgrößten Planeten im Sonnensystem herrschten in diesen Tagen Missstand und Furcht. Die Sonne, dieser bislang verlässliche, in 150 Millionen Kilometern Entfernung strahlende Begleiter, war im Begriff auszukühlen. In der Troposphäre ballte sich gefährlicher Ozonsmog, um die Nordhalbkugel früher oder später in eine Gaskammer zu verwandeln. Und nichts deutete auf eine Wiederherstellung der klimatischen Weltordnung hin, im Gegenteil: Laut Beaufort-Skala fegten in diesen Minuten Orkanböen der Windstärke 12 mit Ziel Südhessen über Mecklenburg-Vorpommern hinweg. Die eben noch im Glast blinkenden Türme Frankfurts schwanden stufenweise in einem öligen, steingrauen Wolkenschleier, und über Kesselstadt begann sich, mit Spitzengeschwindigkeiten von 175 Stundenkilometern, über Mainkur und Dörnigheim heranziehend, etwas Gewaltiges zusammenzubrauen. Doch noch hatte niemand in der Ankergasse, dem Epizentrum folgenschwerer Erschütterungen, den unheilverkündenden Aufruhr der Elemente bemerkt: den Übergang vom bleichen, eben noch unaufdringlichen Grau des Himmels in das metallische Grün eines wütenden Meeres, das, sich zunehmend verfinsternd, in Kürze mit aller Macht nach ihnen greifen würde. Johanna nicht, deren Wahrnehmung sich infolge ihrer zunehmenden Kurzsichtigkeit und des grauen Stars, der ihre Linsen trübte, und deren Gehör manches nicht mehr erfasste, längst auf den begrenzten Radius ihres häuslichen Betätigungsfeldesbeschränkt hatte. Und auch sonst niemand in dem drei Parteien beherbergenden dreistöckigen und an seiner Stirnseite mit verwitterten hellbraunen Schindeln verkleideten Vorkriegshaus spürte die sich anbahnenden Veränderungen. Ebenso wenig ihr Enkel Benjamin, der, eine knappe Autoviertelstunde von dort entfernt, am Schreibtisch seines 42-Quadratmeter-Apartments saß und an den letzten Sätzen seines Porträts der Fußballlegende George Best feilte. Nicht ihr Lebensgefährte Janek, der die Ankergasse zwei Tage zuvor überstürzt verlassen hatte und in diesem Moment in der Cafeteria des Kaufhauses Karstadt saß und begriff, dass er unter Umständen für längere Zeit nicht dorthin zurückkehren würde. Und auch all die anderen nicht, die, Johannas Definition folgend, zum innersten Kreis der Jansens gehörten: ihre Söhne Helmut und Konrad sowie ihre Tochter Ulrike und deren Ehemann Rainer, die inzwischen in sicherer Distanz um die Ankergasse kreisten wie Satelliten um einen verseuchten Planeten.
    Wie gewöhnlich um diese Tageszeit saß Johanna, eingehüllt in ihre sandfarbene Kaschmirdecke, auf der Couch im Wohnzimmer, hielt, wenn auch weniger entspannt als sonst, ihre nachmittägliche Kreuzworträtselpause ab und deutete das plötzliche Schwinden des Lichts als eine der üblichen lästigen Schwankungen ihrer Sehkraft. Erschüttert hatte sie kurz zuvor den Fernseher ausgeschaltet. Sie war in eine Nachrichtensendung hineingeraten, hatte aber zunächst nicht die Kraft besessen, sich der finsteren Macht der Bilder zu entziehen. Und so war sie Zeuge einer der Direktschaltungen ins ferne Bagdad geworden. Sie hatte auf die Mattscheibe gestarrt, auf der unwirkliche grünstichige Bilder der von Leuchtspurmunition erhellten Stadt zu sehen gewesen waren, über der da und dort dichte Rauchwolken aufstiegen. So also sehen »chirurgische Eingriffe« aus, dachte Johanna: aufgerissene Straßen, zerfetzteBrücken, zusammengefallene Häuser, vor denen obdachlos gewordene Iraker standen, und Straßenschächte, aus denen sich turmhohe Rauchsäulen in die Nacht erhoben. Der Reporter hatte von Toten und Verletzten gesprochen, und unter Johannas Entsetzen hatte sich eine dumpfe Leere gemischt.
    Wie die Bilder sich doch gleichen, hatte sie, die wusste, was Krieg bedeutet, gedacht, während sich die Finger ihrer beiden Hände langsam und wie von selbst in die mit Stoff bezogenen Armlehnen des Sessels krallten. Bis sie den Fernsehbildern nicht länger standzuhalten vermochte und den Kasten mit einem jähen Druck auf den roten Off-Button ausschaltete.
    Nein, das Weltgeschehen bot ihr im Moment nicht den geringsten Anlass zu Hoffnungen. Wohin ihr Auge reichte, befanden sich Menschen im Krieg. Selbst bei den Caspars, die das zweite Obergeschoss bewohnten, herrschte seit einigen Tagen Krisenstimmung. Wie es hieß, hatte ein verlegter Lottoschein zunächst zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eheleuten und schließlich, nach anhaltender Weigerung auf beiden Seiten, die Klärung der Schuldfrage
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