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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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Schwänzen, mit vollem Mund und den Körper der Lust entgegengereckt; es waren ausnahmslos Brünette. Sie grimassierten lüstern, kamen pfeilschnell zum Orgasmus und verschwanden sofort wieder. Fotos und Adressen erschienen wild durcheinander auf dem Bildschirm, manche Adressen standen auf dem Kopf oder vertikal, einige zersetzten sich auf merkwürdige Weise, Buchstaben fielen nach unten wie in einem Tetras-Spiel, das bedeutete, daß sie zu einem illegalen Inhalt führten und die Spuren verwischt werden mußten.
    Noch etwas fiel mir auf: Alle Adressen und Fotos hatten etwas gemeinsam, und zwar einen Baum. Hinter diesem Baum waren alle Antworten zu finden, von der Stelle aus, wo ich saß, konnte man sie sehen. Wenn man die Zahlen und Buchstaben entzifferte, kam man immer wieder auf Ahorn, Ahorn war der Schlüssel. Auf einmal begriff ich, daß alle Adressen sich im Hintergrund zum Parc Lafontaine öffneten, drehte mich zu dem Fenster um, das auf den Park ging, und sah dich im strahlenden Sonnenlicht mit dem Laptop unterm Arm herumhüpfen.
    Du hattest bei deinem Spaziergang im Park Lust bekommen zu schreiben, du hattest etwas zu sagen, weil du etwas erlebt hattest, und warst auf dem Weg ins Café So, um alles ans Tageslicht zu zerren.
    In diesem Moment bin ich aufgewacht und habe dich vor deinem Computer sitzen gesehen, den Schwanz in der linken Hand. In deinem Gesicht las ich etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte: Faszination. Du hast gezittert, du warst kurz vor dem Höhepunkt. Ich habe dich ange-schrien, als du dich entladen hast, dann mußte ich weinen, du hast dich entschuldigt, du hast dich vor dir selbst geschämt. Ich habe viel geweint in dieser Nacht, du hast dich an mich gedrückt und mich in die Arme genommen, um mir zu zeigen, daß ich dich nicht verloren hatte, oder besser, daß ich dich gerade wieder gefunden hatte. Zum ersten Mal in unserer Beziehung fragte ich, warum. Dir fiel keine Antwort ein, weil du dir nie Gedanken darüber gemacht hattest, du hattest ein Recht auf das, was in dir steckte, diese männliche Kraft, die ihren Weg durch die Frauen suchte.
    In dieser Nacht habe ich begriffen, ohne es zu verstehen, daß ich die Augen schließen mußte, um mit dir zu leben.

    A ls wir nach dem Nova das Loft in der Rue Saint-Dominique frühmorgens verließen, hat sich etwas ereig-net, worüber wir später nie mehr gesprochen haben.
    Zweifellos war es eine Art Geschenk, das wir uns gegenseitig machten, mit dem anbrechenden Tag kam auch mein neunundzwanzigster Geburtstag, und du warst der erste, der mir gratulierte.
    Solange unsere Geschichte dauerte, war ich voller Zweifel, ob du gesehen hattest, was ich gesehen hatte, wagte es aber nie, dich danach zu fragen, weil es mehr dein Leben betraf als meines, ich habe darauf gewartet, daß du mir diese Frage stellst. Erst als du mich verlassen hast, wurde mir klar, daß du es auch gesehen hattest.
    Es war gegen fünf, und wir wollten immer noch nicht voneinander lassen. Annie war mit ihren Freundinnen gegangen, Adam baute mit Hilfe der anderen DJs von Orion das Equipment ab. Wir gingen nach draußen, der frühe Morgen war schon erfüllt von der Wärme des Sommers, das Vogelgezwitscher drang nach sechs Stunden Techno, dessen Echo noch um uns war, wie durch eine Wattewand verzerrt in unsere Ohren. Wir wollten unser Wiedersehen nicht dem Zufall überlassen, das hätte auch erst im Herbst sein können, beim Schwarzen Loch; etwas mußte geschehen, eine winzige Geste genügte. Da hast du vorgeschlagen, mich zu Fuß nach Hause zu begleiten, das waren von dort etwa vierzig Minuten. Ich zeigte mein Einverständnis wie ein kleines Mädchen, ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mein Lächeln zu verbergen, daraufhin hast du mich auf den Nacken ge-küßt. Erneut machte mich deine Schönheit betroffen. Im Halbdunkel des Loft hatte ich sie erahnt, erraten, entziffert, tastend entdeckt, doch im Licht der aufgehenden Morgensonne, von dem deine Augen schwarz wurden, entzog sie sich nicht mehr, im Gegenteil, sie überfiel mich auf fast erschreckende Weise, so daß ich die Augen abwenden mußte. Wärst du nicht so schön gewesen, hätte ich das nachfolgende Ereignis wahrscheinlich nicht übergangen, und die Welt um uns herum hätte wieder die richtigen Proportionen angenommen. Schönheit ist dazu da, den Blick von der Wahrheit abzuwenden. Die Nacht im Nova hatte keine Spuren auf deiner Haut hinterlassen, dein Gesicht zeigte nichts anderes als die Robustheit der Entscheider und die
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