Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht
Autoren: Andrej Kurkow
Vom Netzwerk:
[5] 1
    Nach der viertägigen Schiffsüberfahrt durch die Drakestraße brauchte Viktor noch etwa drei Tage, um wieder zu sich zu kommen. Die Polarforscher, die mit ihm auf dem Schiff ›Horizont‹ aus dem argentinischen Hafenstädtchen Ushuaia herübergekommen waren, hatten sich auf ihrer Polarstation schon eingelebt und waren an ihre wissenschaftliche Arbeit gegangen. Sie hatten es eilig, vor der hereinbrechenden Polarnacht noch irgendwelche Messungen und Analysen durchzuführen. Viktor dagegen lag immer noch auf dem Bett seines Zimmers in der Wohnetage des Hauptgebäudes. Er verließ sein Zimmer nur zum Essen und um einen Blick in die Runde zu werfen. Man behandelte ihn normal, tat, als gehörte er zum Team. Er freundete sich sogar mit einem richtigen Polarforscher an; der war Biophysiker und beschäftigte sich mit der Erforschung des menschlichen Überlebens unter Extrembedingungen. Viktor schien es auszureichen, zu diesem Zweck ein paarmal die stürmischen Wasser der Drakestraße zu überqueren, die vermutlich auch noch breiter war als das Schwarze Meer. Aber dieser Wissenschaftler interessierte sich nicht für die Überfahrt, obwohl auch er gestand, daß er die ganzen vier Tage mit umnebeltem Kopf und leerem Magen in seiner Koje zugebracht hatte.
    [6] Ganz allmählich erkundete Viktor die Station. Schließlich wagte er sich sogar ins Freie. Hierzu händigte man ihm einen knallroten Anzug mit gelben, reflektierenden Streifen aus. Und schärfte ihm die eiserne Regel ein: Vor jedem Verlassen der Station – sei es auch nur für zehn Minuten – unbedingt auf der Tafel links vom Eingang eintragen. Mit Name und Uhrzeit. Man erklärte ihm, daß, wenn einer nach einer Stunde nicht zurückkäme, alle losgingen, um ihn zu suchen.
    Überhaupt hatte die Wernadski-Station eine ziemlich tragische Geschichte, und Viktor glaubte allmählich zu verstehen, warum England sie der Ukraine vermacht hatte. Die Engländer hatten hier eindeutig kein Glück gehabt. In den Jahren, seit es die Station gab, waren sechzehn Polarforscher umgekommen und zwei Flugzeuge mit Apparaten und Nachschub zerschellt. Man brauchte bloß ans Wasser hinunterzugehen und zurückzuschauen, und dieser Komplex aus mehreren kleinen und dem einen größeren, zweistöckigen Gebäude mit Lagerspeicher weckte sofort Gedanken an eine Gefängnisinsel vergangener Zeiten.
    Nur an einem Ort auf der Polarstation konnte man entspannen und ein wenig herumsitzen: in der Bar des Wohngebäudes. Aber diese Bar war auch nicht ganz von dieser Welt. Alkoholisches wurde hier nicht ausgegeben, einen Barmann gab es auch nicht. Man konnte mit seinem eigenen Schnaps hierher kommen und ein bißchen am Tresen hängen. Man konnte trinken und an der Traube aus Büstenhaltern verschiedener Größen schnuppern, die von einem Stützpfeiler direkt beim Tresen herabhingen. Alle [7] Büstenhalter waren mit Autogrammen ihrer ehemaligen Besitzerinnen versehen – eine etwas merkwürdige Tradition der Station: Jede Frau, die hierher kam, hinterließ ein solches Kleidungsstück an der Bar – wohl als Provokation für die erotischen Träume der Polarforscher.
    Auch Viktor fühlte sich von den BH s provoziert. Aber nicht zu nächtlichen Träumen. Seine Hände streckten sich wie von selber nach dem feinen, aber doch festen Gewebe aus, das die entsprechenden, von den Männern so geschätzten Formen gehalten hatte. Und auch wenn es jetzt nur mit Luft gefüllt war, überkam Viktor schon bei der Berührung mit den Fingerspitzen ein Gefühl von Frühling. Er hatte direkt den Duft von Kirschblüten in der Nase.
    Vielleicht hätte ihn seine Fantasie auch noch weiter getragen, aber da setzten sich schon zwei Polarforscher an den Tresen, ein paar Flaschen mit argentinischem Bier im Arm. Sie boten Viktor etwas an, aber der lehnte ab.
    »Das wirst du noch bereuen, mein Lieber«, sagte einer der beiden mitleidig. »Das ist das letzte Bier, danach gibt es keins mehr!«
    Der Biophysiker und Extremologe hieß Stanislaw, oder, einfacher, Stas. Er fand Viktor etwa zwei Stunden später und lud ihn ein, mit ihm spazierenzugehen.
    Sie liefen hinunter zu den hölzernen Planken, dem ›Slip‹, wo die motorgetriebenen Schlauchboote auf einem Aluminiumgestell zu Wasser gelassen und wieder heraufgezogen wurden. Dort sah Viktor seine ersten antarktischen Pinguine; im Vergleich zu Mischa waren sie klein, wie Spielzeugfiguren.
    [8] »Das sind Adéliepinguine«, erklärte Stas. »Wir sind ja auf einer Insel, das ist noch nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher