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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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aus, in denen ich die Stärkere war. In meinen Szenarien war ich heiter und unbekümmert und holte mir Lover aus deinem Freundeskreis, ich war Nadine, und als Nadine ließ ich dich an meiner Entschlossenheit leiden und konnte dich tagelang vergessen. In meinem Film warst du nichts.
    Als ich an diesem Abend bei dir ankam, tat ich etwas, das ich noch nie zuvor getan hatte: Ich beobachtete dich.
    Von der gegenüberliegenden Straßenseite konnte ich dich durch das Fenster vor deinem Computer sitzen sehen, wenn auch nur bis zur Taille. Ich sah deine großen Hände eine Zeitlang die Tastatur bearbeiten, dann verschwanden sie aus meinem Gesichtsfeld, sicher hattest du sie nur für einen Moment auf deinen Schenkeln abgelegt, bevor du sie wieder zur Tastatur erhobst, um weiterzutippen.
    So stand ich lange Zeit vor deinem Fenster, eine halbe Stunde vielleicht, und sah dir durch den Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen beim Leben ohne mich zu.
    Es war das letzte Mal, daß ich Anspruch auf die Betrachtung deiner von meiner so unberührten Existenz hatte.
    Die ganze Zeit dachte ich, so ist also das Leben, so leben die Menschen, und wußte ohne den Hauch eines Zweifels, daß ich sterben würde, weil ich nie so leben könnte wie du, an diesem Abend ist mir bewußt geworden, daß mein Körper seit jeher ohne meine Seele unterwegs war, die immer noch ein wenig in dem Nichts verharrte, dem mich die Geburt entrissen hatte.
    Nach einer halben Stunde habe ich schließlich bei dir geklingelt; als du mich vor der Tür stehen sahst, hast du ein wenig gezögert und empfingst mich beim Offnen mit den Worten: »Ich habe dich nicht erwartet.« Kaum hatte ich dein Zimmer betreten, wußte ich, daß du es mir gestehen würdest; eigentlich hast du mich erwartet.
    Über zwei Stunden lang haben wir geredet, vorwiegend über meine Probleme, meine entsetzlich gestörte Person; deiner Meinung nach mußte ich erst gesund werden, bevor ich irgend etwas vom Leben erwarten konnte. Es ging um unsere unvereinbaren unterschiedlichen Blickwinkel; wir hätten uns ähnlicher sein müssen, um uns miteinander wohl zu fühlen. Über zwei Stunden lang hast du meine Hände sehr fest in deinen gehalten, und ich gab dir in allem recht, wenn ich du gewesen wäre, hätte ich mich keine zwei Monate ausgehalten, ich an deiner Stelle hätte mich schon viel früher verlassen usw. Eigentlich hat mich nur mein Tod, der auf den Tag meines dreißigsten Geburtstags fixiert war, so lange am Leben gehalten.
    Deine Katze Oreo schlief die ganze Zeit ruhig auf deinem Bürostuhl, und da ich vor deinen Augen nicht weinen wollte, heftete ich meinen Blick auf sie, während wir mechanisch weitergeredet haben, wie man es halt so macht, und irgendwann würde ich durch meinen Abgang den Schlußpunkt setzen.
    Du hast dauernd von Freundschaft geredet, während ich in deinen Kragen heulte, für dich war Freundschaft die logische Folge mißlungener Liebesgeschichten.
    Meine Freundschaft sei dir so wichtig, wir könnten einander doch eine Zeitlang E-Mails schreiben und uns danach als Freunde wiedersehen, ich solle entscheiden, wann es soweit sei. Dann würden wir uns in aller Freundschaft wie alte Kumpel von unserem letzten Fick erzählen und von unseren Karriereplänen, wir würden kurz auf unsere Vergangenheit zurückblicken und gemeinsam darüber lachen, wie wenig wir zusammen paßten, oh, diese Vorstellung von Freundschaft als Entsorgungsun-ternehmen. Ich habe erwartet, daß du mich entweder noch liebst oder mich umbringst, du warst so groß, ich habe etwas Großartiges von dir erwartet.
    Ein Schrei zerschnitt den Faden deines Diskurses über die Freundschaft, der Schrei war die Antwort. Freundschaft mit dir war schlimmer als dich nie wiederzusehen, das ging ins Komische, bedeutete eine weitere Zerstörung dessen, was schon ganz zerstört war, noch mehr Löcher, bis es nur noch ein Scheißhaufen war, Beschmutzung der Schönheit durch Lächerlichkeit, Freundschaft mit dir hieß, dich bis zum Ende gewinnen zu lassen.
    Bei dem Schrei hast du dich von mir gelöst, in dem Moment dachten wir beide an Annie, an den Schrei frühmorgens nach dem Nova. Du hast auch das gleiche gesagt wie damals, du hast von dem Päckchen gesprochen, die jeder zu tragen hat, von dem Kreuz, das man anderen nicht aufladen kann, dann bin ich gegangen.
    Josée wartete seit zwei Stunden im Parc Lafontaine auf mich; ich gab ihr meine Autoschlüssel und bat sie, einen Umweg über die Avenue Mont-Royal und die Rue
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