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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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Saint-Dominique zu machen, um ein letztes Mal am Bily Kun und dem Loft unseres After Hour vorbeizufahren.

    *

    Dein Vater hat im Himmel nach explodierten Sternen gesucht, um das Geheimnis ihres Todes zu ergründen; er war fasziniert von den aufgeplatzten Kadavern im Welt-raum, von der degenerierten Materie, den Gasauswürfen, farbigen Fransen wie Fleisch und Blut, die stellare Winde schließlich zerstreuten. Bei den gemeinsamen Mahlzeiten unterhielt er dich und deine Mutter mit dem überzeitli-chen Leben der Sterne und ihrer Atome, die ständig mit benachbarten Atomen fusionieren wollen. Die Aufgabe der Atome im Herzen der Sterne bestehe darin, sich zu verbinden, erklärte er, zu verschmelzen, um neue Atome zu zeugen, die genauso verschmelzen wollten, und so weiter, bis sie auf ein nicht reduzierbares Atom träfen, ein Eisenatom.

    In ihrem Bestreben, ein großes Ganzes zu bilden, sagte dein Vater, gingen die Sterne direkt auf den finalen Auswurf zu, sie rannten geradezu in ihr Verderben; eigentlich war dein Vater ein Liebender, ein Dichter.
    Am Ende trafen die Atome mit ihren Fusionen unausweichlich auf das eiserne Herz der Sterne, explodierten in spektakulärer Weise und gebaren weiße Zwerge oder schwarze Löcher; dieser Lichtjahre dauernde Prozeß, in dessen Verlauf Schockwellen aus dem Bauch der Sterne diese selbst pulverisierten, war die »Eisenkatastrophe«.
    Mein Großvater hätte sich sehr gefreut, deinen Vater kennen zu lernen, und beim Diskutieren wären sie un-weigerlich zu dem Schluß gekommen, daß Gott ein Eisenkern ist.
    So sind die Menschen, scheint mir, sie sterben, weil sie nicht mehr weiterwissen, sie verrecken daran, daß sie nach ihresgleichen suchen und am Ende doch nur die Katastrophe finden.

    Auch dieser Brief, scheint mir, ist zu irgendeinem Ende gelangt; er hat unsere Beziehung umkreist und schließlich den Kern getroffen. Ich wollte ihn ans Licht zerren, in ihn eindringen und habe mich nur noch mehr verletzt.
    Schreiben heißt Felsen beackern, heißt Stücke verlieren, heißt sich den Tod allzu nah vor Augen zu führen. Erklä-
    rungen jedenfalls erklären überhaupt nichts, sie streuen nur Sand in die Augen und treiben auf einen Endpunkt zu.
    Dieser Brief ist mein Kadaver, er stinkt schon und verströmt seine Gase. Am Tag nach meiner Abtreibung habe ich angefangen zu schreiben, das war vor einem Monat.
    Heute vor genau einem Jahr haben wir uns kennengelernt.
    Morgen werde ich dreißig.
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