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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris
Autoren: Judith Merkle-Riley
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KAPITEL 1
    B ei meinem Eintritt in die Welt schien ich über kein besonderes Talent zu verfügen. Schon gar nicht über jenes ungewöhnliche, das mich in das geheime Reich führte, dessen größte Zierde ich einmal werden sollte. Meine ersten Schreie ertönten an einem grauen Wintermorgen zu Beginn des Jahres 1659 in Paris. Meine Mutter hatte zuvor einen Tag und eine Nacht in den Wehen gelegen, ohne den exzellenten Rat der beiden ärztlichen Gehilfen zu befolgen, die sie ermahnten: »Pressen, Madame, pressen!« Dabei drückten sie ihre Schultern auf die schmale Bettstelle, die man vor das Feuer gerückt hatte. Der berühmte Auguste-Philippe Brunet, Heilkundiger und Angehöriger der medizinischen Fakultät des Collège Saint-Côme, hatte bereits den langen Haken aus seinem Etui genommen, um damit wenigstens die Mutter zu retten. Da stieß die Hebamme, die ihm zur Seite stand, einen Schrei aus und zog doch noch mit ihrer Hand das schrumpelige Ergebnis der vorangegangenen Wehen hervor. Und als sie erschrocken das Blut betrachtete, das sich auf die Laken ergoß, rettete der berühmte Heilkundige meiner Mutter ein zweites Mal das Leben: Nachdem er ein kleines Schaf in das Schlafgemach hatte bringen lassen, gab er Befehl, sie in das frisch abgebalgte Fell zu hüllen. Auf diese Weise wurde ich ein Kind der modernen Wissenschaft, und alle jubelten, mit Ausnahme des Schafes.
    »Madame Pasquier, es ist ein gesundes Mädchen«, verkündete der Heilkundige, die winzige Ursache seiner Bemühungen beäugend, als die Hebamme mich, frisch gewaschen, meiner Mutter zur Begutachtung übergab.
    »Ach Gott, sie ist häßlich«, erwiderte meine Mutter, und damit drehte sie ihr hübsches Gesicht zur Wand und weinte vor Enttäuschung zwei Tage lang. Und so wurde ich noch in derselben Woche mit einer Fuhre brüllender neugeborener Pariser Erdenbürger fortgeschafft, um auf dem Lande bei Fontenay-aux-Roses aufgezogen zu werden. In den nächsten fünf Jahren sollte ich nicht zurückkehren. Ich war gerade lange genug zu Hause geblieben, um meinem Vater die Feststellung zu ermöglichen, daß meine Augen grau waren. Grau, die Farbe des Winterhimmels über den spitzen Schieferdächern der Stadt.
    Wie ich an jenem Morgen zwischen den Sternbildern des Schützen und des Steinbocks geboren wurde, so stand ich auch just an der Konjunktion der Welten von Licht und Dunkel. Auserkoren zur Wanderung zwischen ebendiesen Welten von demselben Schicksal, das meinen Augen die Macht verlieh, das Orakelglas zu lesen. Und auf meinen Wanderungen zwischen der Welt der Vernunft und der uralten Welt der Mysterien und des Wahns begegnete ich Prinzen, Narren und Ungeheuern, zuweilen wahrhaftig alle in ein und derselben Menschengestalt vereint. Keine aber war größer als die strahlende und gefährliche Frau, die Paris aus dem Schatten beherrschte und die Mächte der Erde verhöhnte. Sie war es, die mein Leben veränderte, im Guten wie im Bösen, es zu dem machte, was es heute ist. Während ich schreibe, steht ihr Talisman auf meinem Pult, ein kleines Katzengesicht aus Bernstein. Wenn ich vom Blatt aufblicke, höre ich den Widerhall ihres hämischen Gelächters: »So, so, du schreibst über mich, kleines Närrchen? Dann schreibe recht.« Wer war sie, die Königin der Schatten? Keine, von der Ihr je gehört habt. Nur die größte Hexe, die je ein Königreich in ihrer Hand hielt.
    Ich schmeichle mir nicht, wenn ich sage, daß ich ein vorzügliches Gedächtnis habe und schon in ganz jungen Jahren mehr begriff als die meisten Menschen, was mich zu einem wunderlichen, ernsten Kinde machte. Zum Beispiel sah ich rasch, daß Geld die Triebfeder fast aller menschlichen Handlungen ist, ungeachtet dessen, was einer behaupten mag. Und ich erkannte, daß manche Kinder sich verdienen müssen, was anderen durch ihre Geburt zusteht. Ich konnte nur hoffen, die Duldung meiner lebenslustigen, geistreichen Mutter mittels Gelehrigkeit, Aufgewecktheit und Nützlichkeit zu erringen. Denn sie, die Häßlichkeit in jeder Form verachtete, konnte es kaum ertragen, mit mir in ein und demselben Raum gesehen zu werden.
    Mère Jeannot, die mich aufzog, schärfte mir ein, daß jeder eine schöne Seele haben könne. Doch dies widersprach der Tatsache, daß die anderen Dorfkinder sich sehr wenig darum scherten, wie das Innere beschaffen war; die Entstellung des Äußeren hatte in ihrem Urteil beträchtlich mehr Gewicht. Wenn dann die alte Frau zu ihrem Stock griff, um sie mir vom Leibe zu halten, wurde
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