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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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    KAPITEL 2
     
    S imon seufzte müde. Er hatte das schon einmal erlebt.
    Ein Horn. Rhinozeros. Das Wort rhinozeros kam aus dem Griechischen und hieß Nasenhorn. Fünf Arten der Familie Rhinocerotidae waren auf der Erde noch übrig, aber nur zwei von ihnen, die große indische Art und die javanische, zeichneten sich durch ein einzelnes Horn aus. Die anderen - in Nepal, Sumatra und Afrika - besaßen zwei. Vor seinem geistigen Auge entstand eine Landkarte mit Wüsten, Urwäldern und Savannen. Mit ausgedehnten Sumpfniederungen, unbarmherzigen Ökosystemen und gewissenlosen Wilderern.
    Zumindest das Weiße Nashorn hatte eine winzige Überlebenschance. Aber was das schwarze afrikanische Nashorn betraf, so standen diese Tiere auf verlorenem Posten, verständlicherweise durch alles verschreckt, was ihnen fremd war, und griffen beim geringsten Anlass an. Der sich wie ein Krebsgeschwür ausbreitende Flickenteppich aus landwirtschaftlichen Nutzflächen, Industrieanlagen, Städten und Autobahnen hatte sie praktisch vollständig vom Planeten vertrieben.
    Was das javanische und das Sumatra-Nashorn betraf, so hatten sie, wenn überhaupt, nur eine winzige Chance auf eine Zukunft. Weniger als dreihundert Exemplare des kleinen Sumatra-Nashorns und vielleicht zwei Dutzend javanische lebten noch in freier Wildbahn.
    Ein mit einem Horn bewehrtes Rhinozeros, das im Hafen von Antwerpen gesehen worden war, musste entweder aus Indien oder aus Indonesien gekommen sein. Simon hoffte, dass es wenigstens aus Indien kam, wo die Population von ein paar hundert Exemplaren in der Mitte des letzten Jahrhunderts bis auf zurzeit fast zweitausendfünfhundert angewachsen war. Möglicherweise reichte diese Zahl aus, um ihr Überleben zu sichern. Aber wenn dieser Flüchtling zur javanischen Art gehörte, dann stellte er praktisch zehn Prozent der gesamten noch lebenden Population dar. Und sein Verschwinden wäre eine Tragödie, von der nur wenige Menschen jemals erfahren würden.
    Die Hafenbehörden in Antwerpen hatten in der Vergangenheit zahlreiche Schmuggler aus Indien und Indonesien verhaftet, ganz zu schweigen von einem erklecklichen Anteil von Touristen mit Souvenirs aus Rhinozeroshorn in ihrem Reisegepäck. Solche Reisende tarnten vor den Zollbeamten ihre Vergehen mit einer Schar schreiender Kinder und einem Durcheinander hübsch eingepackter Weihnachtsgeschenke - kurz, sie stellten sich einfach dumm. Und oft genug kamen sie damit durch. Das junge Personal, das den Schmuggel bedrohter Tierarten überwachen sollte und in geringer Zahl über den gesamten Flughafen verteilt seinen Dienst versah, war in der Regel nur unzureichend dafür ausgebildet, eine seltene Schlangenhaut aus Mosambik oder Elfenbeinschmuck aus der Demokratischen Republik Kongo zu erkennen. Wenn mehr erfahrene Wächter eingesetzt würden, könnten die Gegenstände um einiges sicherer identifiziert und beschlagnahmt werden. Manchmal wurden die Schmuggler bestraft, manchmal nicht. Das System war extrem lückenhaft.
    Aber die Chancen, mit Wilderei ungeschoren davonzukommen, waren für abgebrühte Kriminelle geradezu traumhaft. Wenn das Horn zerstampft und zermahlen worden war, wie so mancher in Asien - und dort vor allem in China - angewendeter medizinischer Hokuspokus es verlangte, konnte es für mehr als 50000 US-Dollar pro Kilo auf dem Schwarzmarkt verkauft werden.
    Flughäfen lassen sich leicht mit Schiffshäfen vergleichen. Simon wusste, dass auch ein Dutzend Männer es unmöglich hätte schaffen können, ein Rhinozeros aufzuhalten, das mitten in der Nacht über einen Pier stürmte, vor allem, wenn es soeben nach wilder Jagd eingefangen und aus seiner Heimat abtransportiert worden war. Die Ketamin-Dosierung - das am weitesten verbreitete Betäubungsmittel für Wildtiere - war immer höchst ungenau, weil das Gewicht jedes Wildtiers nie präzise bestimmt werden konnte. Und Xylazin zur Entspannung der Muskulatur hätte wahrscheinlich sowieso keine Wirkung auf ein Rhinozeros. Außerdem gab es auf der panzerartigen Außenhaut eines Nashorns nur wenige kleine Stellen, von denen ein aus einem Kaliber-.22-Luftgewehr abgefeuerter Pfeil mit seinem chemischen Cocktail nicht abprallen würde.
    Selbst wenn man davon ausging, dass die Wilderer ihre Sache richtig gemacht und die richtige Luftkompression, die richtige Länge der Injektionsnadel, den richtigen Gummikolben für den Injektionszylinder und so weiter gewählt hatten, war die Verhaltensweise eines verängstigten gestressten Nashorns
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