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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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laufe«, und ziehe eine Zigarette aus der Schachtel. Sie erinnert sich bestimmt, was ich damit meine. Erinnert sich, wie wir früher glaubten, man könne alle Hindernisse bewältigen, könne schroffe Bergspitzen erklimmen, hinter denen in verwunschenen Tälern Bäume in Form von gigantischen Brokkoli aus dem Boden wachsen, wenn man nur genug Hornhaut hätte. Aber sie verdreht bloß die Augen, sagt: »Gib her!«, nimmt mir die Zigarette aus der Hand, dreht sich auf dem Absatz um und entschwindet in ihr Zimmer. Ich folge ihr bis zur Schwelle, drücke mein Ohr an meine, an unsere gemeinsame Tür. Ich höre, wie sie das Fenster kippt, wie sie kurz darauf rhythmisch die Mouse anzuklicken beginnt.
    Vor Jahren stand die Tür zwischen unseren Zimmern oft wochenlang offen. Das ging so weit, dass Vater sie für uns aushebelte, wir die Betten so aufstellten, dass wir uns vor dem Einschlafen noch einmal kurz zuwinken konnten. Ich war damals meistens schwer krank. Oder tödlich verletzt. Ich war ein angefahrener Igel oder ein erfrierender Hund, auf dessen Pfoten sich vor lauter Kälte brennende Blasen gebildet hatten. Außerhalb unserer Zimmer begann die Wildnis. Ich war bitterarm und verkroch mich von Hunger, Kälte und Schmerzen geplagt in einen mit Fellen ausstaffierten Winkel. Anna-Marie hatte mich aufzuspüren und zu heilen. Sie nannte sich Schwesterchen und kam von diesem fernen Ort hinter den Bergspitzen, wo sich angeblich alles je nach den Wünschen der Menschen in etwas anderes verwandeln konnte, Menschen, die weder Hunger und Schmerz noch Einsamkeit und Traurigkeit kannten. Mir fehlte noch die nötige Hornhaut, um den steinigen Weg dorthin zu überstehen. Von diesem verzauberten Ort habe sie auch ihr Erste-Hilfe-Köfferchen, beteuerte sie, die Operationsutensilien sowie das Handradio.
    Ganz im Sinne Vaters führte sie die ersten kleinen Operationen an mir durch. Ich musste mich auf den flauschigen Teppich im Wohnzimmer legen, unterdessen sie die Instrumente aus dem Köfferchen akkurat auf einem Küchentuch ausbreitete, sich einen zurechtgebogenen Kleiderhaken als Stethoskop um den Hals legte und ihre Schreibtischlampe, die als Untersuchungslampe diente, anknipste. Neben den üblichen Instrumenten wie Schläuchen, Narbenpflastern oder Watteträgern hatte sie noch ein hölzernes Skalpell im Sortiment, das sie im Werkunterricht selbst geschnitzt hatte, und eine an den Spitzen umgebogene Gabel, mit der sie mir immer über die Haut kratzte, bis ich vor lauter Juckreiz nicht mehr stillhalten konnte. Die meisten ihrer Operationen führte sie an Stirn, Augen, Nase, Mund, Kinn und an den Wangen durch. So wie der Mensch aussieht, so fühlt er sich auch, hatte Vater uns schon früher immer gesagt. Sie bedeckte mein Gesicht mit einem löchrigen Tuch und zeichnete mit einem Filzstift kleine Punkte durch die Öffnungen auf die Haut. Im nächsten Schritt nahm sie das Tuch ab und betrachtete das Punkteraster. Ich fühlte ein Stechen und Ziehen. Dann nahm sie das Skalpell und führte es in einer Linie entlang der Punkte über mein Gesicht. Ich atmete schwer. Ich solle ruhig bleiben, sagte sie, holte eine Zahncreme aus dem Köfferchen und verrieb sie ungleichmäßig auf meiner Haut. Das genüge noch nicht, sagte sie, das müsse richtig verheilen, und zog die Schreibtischlampe heran, um einzelne Partien intensiver zu bestrahlen. Während ich auf die Heilung wartete, baute sie noch das Kofferradio direkt neben meinem Ohr auf, wegen der Röntgenwellen, sagte sie und ging.
    Immer noch ertönt von nebenan leise das monotone Mouseklicken. Ich fahre meinen Computer hoch, um ihre Statusmeldungen zu lesen. Die Heizung gluckst, unter dem Tisch säuselt beruhigend das Computergebläse, von den Fensterscheiben strahlt es kalt in meine Richtung. Ich tue es ihr gleich, logge mich ein, lese: That awkward moment, wenn du realisierst, dass er ein dummes Teenager-Girl geworden ist. Gegen alle Erwartung drücke ich »gefällt mir« und logge mich im Triumph wieder aus.
    Kim wirkt müde. Direkt nach der Schule hilft sie meist in der Cafeteria aus, serviert den Gästen, von denen viele mit ihr vormittags in der Klasse sitzen, ihre Café frappés und Rucola-Schinken-Bagels. Jetzt aber lächelt sie in die Kamera, als ihre Hand über das Mousepad ruckelt und ihr Gesicht vom Bildschirm erleuchtet wird. Ein schöner Kontrast zur Dunkelheit ihres Zimmers. Es ist weniger als halb so groß wie meins, aber sie ist zufrieden, glücklich über die Privatsphäre, ihre
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