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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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    »Hochkant, Till, das geht doch nur hochkant!« Karola hat die Arme vor der Brust verschränkt, in der Hand hält sie ein Sektglas. Während Till abermals versucht, die Couch aus seinem Zimmer in den Gang hinauszuziehen, dabei aber nicht um den Türrahmen herumkommt, sie nur weiter verkantet, stellt Karola ihr Glas auf das Sideboard und krempelt sich langsam die Ärmel hoch. Tills Bewegungen sind fahrig und bleiben wirkungslos. Karola fasst ihn an der Schulter, Till schaut auf, wischt sich die Strähnen aus der Stirn. Sie schiebt ihn bestimmt beiseite, streicht ihm kurz über die Wange, packt das vordere Ende, sagt: »T ill, siehst du?«, und stemmt die Couch bis knapp unter die Lampe in die Höhe. »Jetzt du in den Gang.« Till nimmt den unteren Teil und wendet ihn in den Gang hinein. »T ata!«, sagt sie und setzt das Möbelstück behutsam auf dem Parkettboden ab.
    Auf Tills Stirn hat sich lästiger Schweiß gebildet, Karola schaut ihn an, dann die Couch, die zwischen beiden steht, dann wieder ihn: »Was soll das eigentlich werden?«
    »Das Ding kommt in den Keller.«
    Sie zuckt mit den Schultern, sagt, »ja, von mir aus«, und geht einen Schritt zur Seite. Till beginnt, die Couch in Richtung Ausgang zu schieben. Sie nimmt das Sektglas wieder vom Sideboard und trinkt einen Schluck. Striemen auf dem Boden hinterlassend schiebt Till die Couch an ihr vorbei weiter den langen Gang entlang. Seine Mutter riecht übermäßig süß nach Kokoscreme. Erst passiert er die Küche, dann die offenstehende Flügeltür. Im Wohnzimmer wirft das Kaminfeuer tänzelnde Schatten an die Wand, liegt Anna-Marie auf dem Sofa in Kissen gebettet, ihr Gesicht vom Laptop grell erhellt. Sie kommt Till vor wie ein vom Licht in den Bann gezogener Falter. Kurz treffen sich ihre Blicke, kneift sie irritiert die Augen zusammen, als könne sie seine Gedanken lesen, als spüre sie schon das versengende Licht, dreht sich dann aber wieder dem Bildschirm zu. An der Schwelle zum Eingangsbereich, von dem auch der zweite Gang zum Elterntrakt abgeht, umrundet Till die Couch, hebt sie leicht an und zieht sie hinter sich her bis zur Wohnungstür. Er verhakt die Tür und schiebt die Couch über die Mi-casa-es-tu-casa -Fußmatte ins Treppenhaus, drückt dort den Knopf des Aufzugs, der sich sodann surrend in Bewegung setzt. Die mintfarbenen Wände sowie die gleichmäßig verteilten LED -Spots des Treppenhauses erinnern ihn wie jedes Mal an die sterile, aber dennoch anregende Ordination seines Vaters. Ein Bild schießt ihm durch den Kopf: Oskar, wie er Nasen und Wangenknochen zurechtbiegt, Unterhautfettgewebe knetet, nach dem wahren Charakter des Menschen gräbt, wie er zu sagen pflegt, aus der Verschüttung befreit, Grundformen wiederherstellt.
    Mit dem Signalton öffnet sich der Aufzug. Im Spiegel des Innenraums sieht Till, dicht hinter sich, seine Mutter. »Komm«, sagt sie, »ich pack mit an – die passt doch niemals hinein.«
    Till hält kurz inne, dann nickt er ihr zu. »Warte«, sagt sie, eilt in die Wohnung und kommt mit den gleichen Filzpantoffeln an den Füßen zurück, wie auch er sie trägt. Karola geht voran, Till hinterher. »Nicht absetzen.« Karola keucht, das Gewicht der Couch lastet nun beim Hinuntersteigen der Treppe auf ihrem Rücken. Till sieht, wie ihre Muskeln verhärten, wie feine Adern entlang des Arms verlaufen und unter dem hochgekrempelten Stoff verschwinden. Erst gehen sie an den Yucca-Palmen der Nachbarn, dann im Erdgeschoss an der Hintertür der Bäckerei vorbei. Sie ist spaltbreit geöffnet, aber von Frau Tretter keine Spur. Lediglich das Summen der Öfen, der süßliche Croissant-Geruch ist wahrnehmbar.
    Mit der rechten Schulter drückt Karola die Tür zum Kellergeschoss auf und stellt als Erste das Sofa vor der Parzelle ab. Sie fährt sich mit dem Handrücken die Stirn entlang: »Ganz schön warm hier.« Till sucht in der Tasche nach seinem Kellerschlüssel. Die Holztür, an der eine große TillTeg -Schablone prangt, schwingt gegen die Betonwand. Till steht für Till, Teg für Tegetmeyer. Das erste TillTeg hatte er neben die Bäckerei Tretter, das zweite an die Hauswand gegenüber, das dritte ans Rathaus gesprüht, ab dem vierten schließlich wurde es ihm peinlich, seinen Namen zu hinterlassen, zumal sich noch nicht einmal die Polizisten in den vorbeifahrenden Streifenwagen dafür interessierten.
    Der Keller ist mit allerlei Gegenständen vollgestellt, verstaut in Kisten, Regalen, unter Plastikplanen. Da das Mischpult mit
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