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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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Großteil der Menge versucht an die Hauswand heranzugelangen, als gäbe es dort etwas zu sehen. Ein kleiner Teil aber drückt dicht geschlossen gegen die Masse, weg von dem Erker, weg von den Menschen. Kim lehnt sich weit vornüber, so dass sie fast aus dem Fenster kippt. Unter ihr die Kerzen und Zweige. Würde Jan sie nicht an der Jacke halten, zerschellte sie dort am Boden. »T ill?« Kim sucht nach ihm, kann ihn aber unter all den Menschen nicht ausmachen. Die Menge ist nun direkt unter ihnen, die Kerzen und Zweige zertrampelnd – da das Wiehern eines Pferdes, dort das Geräusch zerberstender Scheiben, das Martinshorn, wie es verebbt. Till ist weiter nicht zu sehen. Wie sieht er überhaupt aus, wie lang mögen seine Haare sein, fragt Kim sich, nach all der Zeit? Als hätten sie das eigentliche Ereignis verpasst, wendet sich die Menge plötzlich enttäuscht ab, strömt auseinander, dem Popperbrunnen oder dem nächstbesten Kiosk entgegen. Die kleinere Gruppierung hat sich indessen ihren Weg durch die enge Straße gebahnt, weg vom Popperbrunnen, ins Dunkel einer Seitengasse. Sie bilden einen Pulk um etwas in ihrer Mitte: ein dunkles Etwas, vielleicht in Decken gehüllt, vielleicht humpelnd, vielleicht über den Boden schleifend. Eine Rakete explodiert unmittelbar vor dem Erkerfenster. Als sich der Rauch verflüchtigt, die tränenden Augen wieder etwas erkennen können, sind sie verschwunden.

19
    liebe kim,
    wenn dich dieser brief erreicht, wird alles gut sein. kraule dem tapferen tier – es ist ein grüner leguan! – zur belohnung den schuppigen kehlsack. es wird mit den augen rollen, erschrecke dich nicht! das ist ein zeichen. es wird einen weiten weg hinter sich gebracht haben.
    uns ist der grundstoff ausgegangen. der strom ist die brücke zur anderen seite. das will ich dir schreiben. meine hand zittert, der wind weht eiskalt hier. jemand hat mir in den rücken getreten, so dass ich über die kante des baumhauses fiel und am fuße des brokkolibaums hart auf einen stein aufschlug. da liege ich nun in welt 0, und es fühlt sich an, als wäre mein schädel aufgebrochen, ein fenster eingeschlagen worden, aus dem alles ein- und austreten kann. sie haben mich hier vergessen. ich musste mich übergeben. bin ich gescheitert? ich kann den urin nicht mehr bei mir halten. viele male. mein kopf dröhnt, ich sehe mich da unten liegen, meine glieder sind an den raum, aus dem alle Farbe gewichen scheint, wie festgenagelt. wenn ich den kopf zu heben versuche, macht es ein geräusch, als zöge ich nägel aus einem alten stück holz. aber das sind nur gefühle, die ich wieder zu vergessen weiß. wie damals, als das tier mich prüfte und meinen finger kaute. habe ich dir davon erzählt? es hat öfters ans aufgeben gedacht. ihm gefällt der gedanke, doch das leben eines behüteten haustieres zu führen. vielleicht ist welt 0 nicht gut genug? aber hier ist es doch ein star! stattdessen wollte es immer ein tegetmeyer-nutztier sein, wo es bloß zwei, drei kunststücke zu erlernen hätte, um sehr, sehr weit zu kommen. wer will denn nicht von nutzen sein? – ich muss mich beeilen, ihm fehlt schnee und regen. stärkung für die reise. ja, eine schneearme zeit. kein wasser. sonst begnügen wir uns mit pilzen, die ich in reichweite meiner arme finden kann. kim? uns ist der grundstoff ausgegangen! wie soll mich jemals jemand finden? wie soll ich jemals von alleine wieder die sprossen erklimmen? kim, wir könnten auf dem dach des baumhauses sitzen und duftenden tee schlürfen, aus den wipfeln würden vögel aufsteigen und über dem dichten laubmeer ihre bahnen ziehen, im tal würden schafe weiden, deinen kopf an meine brust gelehnt hätten wir so viel zeit, dass wir jedes einzelne von ihnen zählen könnten. in den pausen würden wir unsere körper so fest aneinander pressen, dass wir das gleiche fühlten, und sei es ein schmerz oder die erleichterung danach. das farbenspiel des sich brechenden lichts wäre jederzeit um uns herum, die leuchtenden gestirne und glühwürmchen, nach denen wir greifen, die wir uns gegenseitig an unsere kleidung stecken könnten. – du fragst, ist das alles vorbei? – ich sage: es gibt welt 0. – du fragst: wie kamen die anderen dorthin? – ich sage: vor langer zeit haben sie sich in ihre kokons zurückgezogen. dort liegt der eingang zu 0. – du fragst, ob es sich wirklich lohnt, dafür alles aufzugeben. – ich sage: dort thront ein jeder über seiner eigenen welt, es kann eine ganze insel sein, oder ein
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