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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori
Autoren: Kevin Kuhn
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Junge mit einer Girlande um den Hals nähert sich ihren Beinen, sein Kopf verschwindet unter ihrem Rock. Böller werden gezündet und in die Menge geworfen. Als würden sie seilspringen, hüpfen die Versammelten auf und ab, wenn sie ins Straucheln geraten, fallen sie sich in die Arme. Die Knaller hallen die Häuserschlucht hinunter.
    Ein Junge von etwa zwölf Jahren, der eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat, trägt eine Kerze vor sich her, darauf bedacht, nicht mit der Menge zusammenzustoßen, das Licht nicht erlöschen zu lassen. Unter dem Erker, dessen Fenster verdunkelt sind, stellt er sie zu den anderen. Es ist ein Meer an Lichtern in unterschiedlichen Größen und Farben. Die übrigen Fenster des Hauses sind hell erleuchtet, aus dem geöffneten Wohnzimmer der Tegetmeyers wummert der satteste Bass. Die improvisierten Anlagen der Leute auf der Straße erscheinen geradezu kümmerlich dagegen. Der vermummte Junge hat kurz unter dem Erker verweilt, ist dann durch die tanzende und grölende Menge hindurch wieder in die Dunkelheit verschwunden.
    Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Silvesterraketen erhellen für kurze Augenblicke den tiefschwarzen Nachthimmel, färben den in Rauchschwaden versinkenden Mond blutrot, lassen Sterne auf die Erde regnen. Eine hochgebockte Stretchlimousine blockiert die halbe Straße. Das Mädchen auf der Mülltonne hat den Jungen zu sich heraufgezogen, er tanzt sie nun von hinten an und geht mit ihr in die Knie. Die Freunde johlen und singen: Tonight will be that night , klatschen und feuern das tanzende Paar weiter an. Auffällig ist, dass alle sehr spärlich bekleidet sind, allerhöchstens mit Pullis oder leichten Jacken, die Luft ist ungewöhnlich mild, der Schnee schon lange wieder geschmolzen.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite raucht ein Herr im Schutz des Hauseingangs eine Zigarette. Kim, die sich dicht an die Hauswand gedrückt der Szenerie nähert, bleibt vor dem Hauseingang stehen, sucht in ihren Taschen nach einer Zigarette. Der Herr beobachtet sie von der Seite, eine Kamera scheint mit seiner Hand wie verwachsen. Kim trägt schlichte Bluejeans und eine zu große Daunenjacke. Wenn eine Rakete den Himmel, die Häuserschlucht und all diejenigen erhellt, die hinaufschauen, sieht man ihre dunklen Augenringe.
    Der Herr, der eine Jogginghose trägt, hält ihr eine Marlboro Gold hin. Mit einem kurzen Lächeln nimmt sie an und lässt sich Feuer geben. Der Aufnahmeknopf der Kamera blinkt rot. Während sie rauchen, strömen vonseiten des Popperbrunnens immer mehr Menschen heran und blockieren die enge Straße. Die meisten scheinen sich nicht zu kennen, denn sie bleiben in ihren Gruppen unter sich. Manche haben auch ihre Smartphones gezückt, filmen sich, die anderen, die Hausfassade. Sie lachen und grölen, viele sind bereits angetrunken gekommen. Ab und an ist eine vereinzelte Person dazwischen mit ernster Miene, geduckter Haltung, den Blick starr vor sich gerichtet: eine junge Frau, Ende zwanzig, vornehme fahle Haut, Sommersprossen. Zielstrebig bahnt sie sich ihren Weg durch die Masse. In der geballten Faust hält sie einen Zweig. Weit in der Ferne ertönt eine Sirene. Es könnte auch das Wimmern eines Kindes sein. Unter dem Erker bleibt die junge Frau stehen, legt den Zweig zwischen den Kerzen ab, blickt zu Tills Zimmer hinauf. Erst jetzt, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, erkennt Kim, dass Till nicht einfach eine Jalousie heruntergelassen hat, sondern die Fenster zugeklebt haben muss.
    Sie braucht eine Weile, bis ihr Atem wieder in den normalen Rhythmus findet, bis sie die richtigen Mengen Luft inhalieren kann. Sie zertritt die Zigarette auf dem Boden, versteckt ihre Hände in den Taschen ihrer Daunenjacke, sucht nach der jungen Frau, die aber von der Menge für immer verschluckt zu sein scheint. Der Herr neben ihr hat sie nicht aus den Augen gelassen. Kim entgeht nicht, wie er mehrmals dazu ansetzt, etwas zu sagen. Um das Unvermeidliche über sich ergehen zu lassen, wendet sie sich ihm ihrerseits zu, sagt: »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Nein, nein«, sagt der Herr und schaut demonstrativ auf einen bestimmten Punkt in der Menge. »Ich dachte nur für einen kurzen Augenblick, ich würde Sie kennen.« Er schaut sie flüchtig an, dann wieder auf den bestimmten Punkt in der Menge. Ein Böller explodiert unmittelbar vor ihnen, eine Horde Jugendlicher grinst vor sich hin.
    »Die haben ihren Spaß.« Der Herr schüttelt den Kopf, die Kamera baumelt an seinem schlaff
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