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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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_________Vorwort_________
     
     
     
     
    Mit Beendigung von Ich war zwölf ... 1 glaubte ich, mir
endlich eine Ruhepause gönnen zu können. Dieses Buch hatte mich so viele
Tränen, innere Schreie und Ängste gekostet... Ich dachte, ich könnte dieses
Kapitel hinter mir lassen. Mein zukünftiges Leben sollte auf ein leeres Blatt
geschrieben werden, das wünschte ich mir von ganzem Herzen.
    Nächte und Tage verstrichen, mehr oder
weniger ruhig, mehr oder weniger friedlich. Ich begriff schon sehr bald, daß
meine quälenden Erinnerungen mich niemals loslassen würden. Immer mehr
Hilferufe erreichten mich. Ich hatte gesprochen; andere wählten mich zur
alleinigen Vertrauten für ihre Leidensgeschichte. Ihnen zuzuhören bedeutete,
mich erneut meinem eigenen Leid zu stellen, aber ich hatte nicht das Recht,
ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Ich hatte nicht das Recht, mich zu
distanzieren, die Ohren zu verschließen.
    Und so erklärte ich mich bereit, mich
mit Annie zu treffen und ihr zu helfen. Und vor ihr Gina, Lisie, Éric... Ich
weinte mit ihnen, als sie mir von ihren durchlittenen Qualen erzählten. Ich
versuchte, an ihrer Seite gegen den Schmerz anzukämpfen, der einen langsam
umbringt. Nur selten gelang es mir, ihnen ihren inneren Frieden wiederzugeben.
Das Leid ist tief verwurzelt, die Wunden sind noch offen.
    Ich bin mit gesenktem Kopf auf diese
Schmerzgeschwüre zugestürmt, in der Hoffnung, ihre beklemmenden Ängste zu
durchbrechen und sie auf eine Flucht ins Vergessen zu begleiten. Ich stellte
mich ihrer Wahrheit. Aber befreien konnte ich sie nur in den seltensten Fällen.
    Dennoch machte ich weiter. Jedesmal,
wenn ein Inzestopfer mich um Hilfe bat, steckte ich in seiner Haut und er oder
sie in meiner.
    Ich mußte Stärke zeigen. Ich mußte
durchhalten. Aber innerlich schrie ich. Oft geriet ich ins Wanken. Meine Kräfte
ließen nach.
    Ich schloß diese Leidensgefährtinnen
und -gefährten in die Arme. Ich linderte so gut es ging einige Qualen. Ich
sagte beruhigende Worte, von denen ich wußte, daß sie praktisch nutzlos waren
im Angesicht der Abgründe, die der Inzest aufreißt.
    Wenn ich nach Hause zurückging, war mir
speiübel.
    Hundertmal glaubte ich, daß mein
eigener Wille, zu überleben und neu anzufangen, erlöschen würde.
    Ich träumte davon, Anwältin zu werden.
Anwältin mit einem großen A, um besser gegen das Übel Vorgehen und dem Recht
zum Triumph verhelfen zu können. Mir wurde schnell klar, daß die Rechtsprechung
ihre — für mich völlig inakzeptablen — Schwachstellen hat. Eine Rechtsprechung,
die das Prinzip »Ein Angeklagter gilt bis zum Nachweis seiner Schuld als
unschuldig« zugrunde legt und die diesem Grundsatz folgend auf seiten
inzestuöser Väter steht, konnte mich nicht befriedigen.
    Auch habe ich erfahren, daß Anwälte
jeden verteidigen müssen. Ich habe mir eine bestimmte Szene ausgemalt. Ich
sitze an einem imposanten Schreibtisch und höre einem Mann um die 40 zu. Er ist
aufgebracht, weil seine Tochter ihn beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben.
Dafür solle er doch wohl nicht hinter Gitter! Er will, daß ich seine
Verteidigung übernehme. Die Ethik verbietet mir, über ihn zu urteilen und ihn
fallen zu lassen. Ich muß ihn anhören, ihn aufbauen und ihn vor einem
Schwurgericht verteidigen... Unmöglich!
    Ende der Laufbahn als
Wiedergutmacherin, die einzuschlagen ich mir nach Beendigung von »Ich war zwölf...«
vorgenommen hatte. Ich werde weiter nach meinem Weg suchen.
    Anderen zu helfen, mit den Qualen
anderer konfrontiert zu werden, hat mich manchmal mein eigenes Leid vergessen
lassen. Aber ich habe mich keineswegs darüber gefreut, sondern es mir viel eher
vorgeworfen.
    Ich hätte nie gedacht, eines Tages in
der Lage zu sein, eine Waschmaschine zu bedienen. Auf diesem alltäglichen
Haushaltsgerät hatte mein Vater mich jahrelang vergewaltigt. Für mich würde es
immer mit einem Fluch behaftet sein. Und doch habe ich mir eine solche
Waschmaschine gekauft. Anstatt sie im Bad aufzustellen — wo sie in meiner
Kindheit stand — , habe ich sie in der Küche installiert, und wir sind lange
problemlos miteinander ausgekommen.
    Bis zu dem Abend, da die Erinnerung
mich wieder eingeholt hat. An einem ganz speziellen Abend: Ich wußte, daß mein
Vater am nächsten Tag seine Freilassung auf Bewährung beantragen konnte.
    Angesichts seiner bevorstehenden
Haftentlassung gestattete ich mir selbst nicht mehr das Recht auf Heilung. Auch
nur ein einziges Detail des gräßlichen
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