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Die Opfer des Inzests

Die Opfer des Inzests

Titel: Die Opfer des Inzests
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Gewissensbisse mehr plagen. Er wird sein Leben
wiederaufnehmen. Dieser Gedanke ist mir unerträglich. Ich hasse diese
Rechtsprechung, die ihn zu einer so leichten Strafe verurteilt und mich selbst
endlosem Leiden überlassen hat.
    Aber vor allem hasse ich diesen Mann
für das, was er mir gestern angetan hat, woran ich noch heute leide und auch
morgen noch leiden werde.
    Ich habe mir nichts von den Diskussionen
über den Gesetzentwurf entgehen lassen, der sich auf Kindesvergewaltiger und -mörder
bezieht. Das Strafmaß von 30 Jahren Sicherheitsverwahrung ohne Möglichkeit der
Strafminderung hätte schon vor langer Zeit im Gesetz verankert werden sollen.
Die meisten Psychiater bestätigen, daß man unmöglich sicher sein kann, daß
diese Kriminellen auch nach jahrelanger intensiver Behandlung eines Tages in
der Lage sein werden, ihren Platz in der Gesellschaft wieder einzunehmen. Das
bedeutet, daß viel zu oft Monster auf freien Fuß gesetzt worden sind, obwohl
noch Zweifel, Verdachtsmomente bezüglich ihrer endgültigen Heilung bestanden.
Kinder sind durch die Schuld der Justiz unter unvorstellbaren Qualen gestorben.
    Ich werde Angst haben, solange dem kein
Ende gesetzt wird.
    Die Veröffentlichung von Ich war
zwölf... hatte mir große Hoffnung gemacht. Ich wußte natürlich, daß der
Inzest nicht von der Erde verschwinden würde, aber ich erwartete eine
Springflut, eine gigantische Bewußtwerdung seitens der Gesellschaft... Aber es
ist gar nicht so leicht, die Wahrnehmung zu verändern. Man weigert sich auch
weiterhin zu erkennen, daß alle Gesellschaftsschichten vom Inzest betroffen
sind, die untersten ebenso wie die obersten. Dieses Verbrechen weckt so große
Abscheu, daß man es vorzieht, den Blick abzuwenden. Man gesteht uns, die wir
den Beweis liefern, daß es dieses abscheuliche Verbrechen tatsächlich gibt,
kaum das Recht zu, darüber zu reden.
    Beim Prozeß von Annies Stiefvater mußte
ich wieder einmal feststellen, daß man den Schuldigen immer mildernde Umstände
zugesteht. Den Bericht von diesem Prozeß möchte ich Ihnen zu Beginn dieses
zweiten Buches präsentieren, in dem ich erneut den Inzest anprangere. Ich
möchte nämlich eines Tages, ohne das Gefühl zu haben, ihn anzulügen, meinem
Sohn sagen können, daß man auf das Gesetz vertrauen muß, daß es uns schützt und
wir es respektieren müssen.
    Es ist dringend erforderlich, daß den
Folterknechten der Prozeß gemacht wird anstatt den Opfern, wie es bis heute
tatsächlich der Fall ist. Uns. Wenn wir den Mut aufbringen, Anzeige zu
erstatten, endet unser Alptraum nicht mit Abschluß der Gerichtsverhandlung. Das
Urteil fällt wie ein Theatervorhang. Mit einem schweren, dumpfen Laut. Die
bissigen, inquisitorischen, verletzenden Fragen verfolgen uns noch lange. Denn
wir haben die undankbarste Rolle inne, und wir bezahlen bis zum letzten Atemzug
dafür. Das ist eine ungeheure Ungerechtigkeit.
    Es ist unabdingbar, daß das Gesetz sich
auf unsere Seite stellt, auf die Seite der Opfer des schlimmsten Verbrechens
überhaupt. Denn unser Körper wird für immer die Spuren des Mißbrauchs tragen,
trotz aller Psychotherapien und Antidepressiva. Die Berichte, die Sie im
folgenden lesen werden, zeugen davon.
    Wenn es notwendig ist, traurige
Wahrheiten endlos zu wiederholen, werde ich dies tun, soviel steht fest. Diesem
Zweck soll auch dieses zweite Buch dienen. Es hat mich ebenso große Qualen
gekostet wie das erste, weil es nicht leichter ist, sich dem Leid anderer zu
stellen als dem eigenen.
    Ich werde nicht ruhen, solange es noch
kleine Mädchen, unschuldige Kinder vor diesem abscheulichen Verbrechen zu
retten gibt.
    Mögen die authentischen Berichte von
Kindheiten, die von Vätern, Großvätern oder Onkeln zerstört wurden, dazu
beitragen, den Kampf gegen das Undenkbare, das Unaussprechliche, Unerträgliche
— den Inzest — voranzutreiben.

__________Annie__________
     
     
     
     
    Ein regnerischer Januarmorgen. Vor den
hohen schmiedeeisernen Toren des Gerichts von Grenoble schnürt es mir die Kehle
zu, daß ich kaum noch Luft bekomme, und mein Herz schlägt so wild, als würde es
gleich zerspringen.
    Wenn es einen Ort gibt, den ich
glaubte, niemals wiederzusehen, dann diesen. Seit am 4. Oktober 1989 der Prozeß
meines Vaters dort geführt wurde, verfolgt mich dieser Ort in meinen Träumen.
    Heute befinde ich mich wieder nur wenige
Schritte von dem eisigen Saal mit der dunklen Täfelung entfernt, in dem ich vor
drei Jahren so grauenhafte Stunden durchlebt
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