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Der Duft des Anderen

Der Duft des Anderen

Titel: Der Duft des Anderen
Autoren: Jutta Ahrens
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    Maria Matuschek stand am Fenster des Säuglingszimmers auf der Entbindungsstation der Städtischen Klinik in Berlin-Oberschöneweide und sah hinunter auf den Hof. Eine Frau ende zwanzig, halblanges, dunkelbraunes Haar, große, braune Augen, verhärmter Mund. Sie hatte Ringe unter den Augen und eine graue Gesichtsfarbe, das kam von den Nachtwachen. Sie dachte an die Frau in Zimmer 14 und daran, dass es Unrecht war, was Dr. Vollrath vorhatte. Nicht, dass sie es hätte verhindern können, aber das Unrecht bedenken, das konnte man ihr nicht verweigern. Und merkwürdig, je länger sie darüber nachdachte, desto geringer erschien es ihr.
    Hellmuth Kosznik, Duzfreund von Dr. Vollrath und ein hohes Tier beim MfS, hatte seine Verbindungen spielen lassen. Seine Frau wünschte sich ein Kind, konnte aber angeblich keins bekommen. Ob die Ursache der Kinderlosigkeit vielleicht bei ihm selbst zu suchen war – das wurde nicht erörtert. Ein strammer Parteifunktionär war zeugungsfähig, das wäre ja noch schöner. Und weil der Sozialismus Kinder brauchte und Hellmuth Kosznik der Welt seine Potenz beweisen wollte, musste ein Baby her. Nicht irgendein Baby, sondern ein sonniger Bub mit lichtblondem Haar, der schon in der Wiege seinen Brüdern zur Sonne, zur Freiheit krähte. Aber sonnige Buben, die den Ansprüchen Koszniks genügten, waren dünn gesät.
    So war es ein Glücksfall gewesen, dass Frau Gräfin Luise von Stein in Dr. Vollraths Klinik gesunde und sonnige Zwillinge zur Welt gebracht hatte. Dr. Vollrath, ausgestattet mit einem gesunden mathematischen Verständnis, erkannte sofort: Zwei durch zwei macht eins – für jeden eins.
    Gräfin Luise von Stein war nicht so glücklich dran. Selbstverständlich war sie stolz darauf, die Ahnenreihe derer von Stein mit zwei gesunden Knaben gesichert zu haben, aber erstens konnte sie nicht ahnen, dass ein Plebejer bereits auf einen der Stammhalter spekulierte, und zweitens war sie im real-sozialistischen Deutschland schon lange keine Gräfin mehr. Der einstige Herrensitz war enteignet und zu einem Museum umfunktioniert worden. Nur zu verständlich, dass sich Frau von Stein in diesem barbarischen Staat nicht mehr zu Hause fühlte, der ihr Burg und Titel geraubt hatte. Leider hatte derselbe Staat für den Kummer der hochgeborenen Frau wenig Verständnis und ihre beiden Ausreiseanträge abgelehnt. Frau Gräfin war bei der Obrigkeit in Ungnade gefallen. Die ihr angebotene Stellung in einer Konservenfabrik musste sie dann allerdings wegen ihrer Schwangerschaft nicht antreten.
    Dr. Vollrath begegnete einer Vertreterin der verachteten Bourgeoisie äußerst liebenswürdig. Nicht, dass er sich soweit vergessen hätte, Frau von Stein mit ihrem alten Grafentitel anzureden, aber er hatte sie in einem Einzelzimmer untergebracht und benahm sich in ihrer Gegenwart auch sonst sehr ehrerbietig – für einen hartgesottenen Parteigenossen beinah subversiv. Frau von Stein nahm die respektvolle Behandlung hin wie etwas Selbstverständliches.
    Maria mochte sie nicht, die hochgewachsene Gräfin mit den graugrünen Augen, die einen ansahen, als sei man aus Glas. Alles an der Frau stieß sie ab. Alles, außer ihren Haaren. Sie waren sehr hellblond, fast weiß und glänzten silbern. Noch nie hatte Maria so eine Haarfarbe gesehen.
    Sie warf einen Blick auf die schlafenden Zwillinge. So hübsche Babys! Noch bedeckte ein farbloser Flaum ihre Schädel, aber zweifellos hatten sie die Haarfarbe ihrer Mutter geerbt. Maria ärgerte sich ein bisschen darüber, dass die gnädige Frau von und zu, abstammend von Ausbeutern der arbeitenden Bevölkerung, so prächtigen Nachwuchs hatte – eben alter Adel! Da war es nur gerecht, dass eines dieser hochgezüchteten Kinder die solide Lebensweise eines marxistischen Kämpfers für Gleichheit und Brüderlichkeit teilen würde.
    Zuerst war Maria erschrocken gewesen, als Dr. Vollrath ihr von dem Plan erzählt hatte. Erschrocken, aber auch ein wenig geschmeichelt, dass der Oberarzt sie eingeweiht hatte. Sie und nicht Oberschwester Hannelore. Maria hatte eingewilligt, sie hatte auch keine andere Wahl gehabt, selbst wenn kein neuer Wohnzimmerschrank samt Couchgarnitur dabei herausgesprungen wäre. Denn Dr. Vollrath ließ sich nicht lumpen. Schließlich war er kein schlechter Mensch, hielt zu seinen Freunden und seinen Untergebenen. Maria nickte bekräftigend zu ihren Gedanken und strich abwesend die Decken auf dem Kinderbettchen glatt.
    ***
    Dr. Vollrath strich sich nervös über
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