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Der Duft des Anderen

Der Duft des Anderen

Titel: Der Duft des Anderen
Autoren: Jutta Ahrens
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abgestoßenen Möbeln, dem durchgesessenen Sofa und den altersschwachen Stühlen, alles Möbelstücke, die bereits ihren Eltern gute Dienste geleistet hatten, gute Vorkriegsware, sie würden noch einige Jährchen aushalten, aber eine neue Wohnzimmereinrichtung würde den Raum mit neuem Leben erfüllen.
    Mit neuem Leben! Maria warf einen Blick auf das schlafende Kind und knöpfte abwesend ihre Strickjacke zu. Das neue Leben war bereits hier eingezogen. Aber es gehörte ihr nicht, war ihr nur geliehen worden, gehörte jetzt der Familie Kosznik, und ihr, Maria, würde die Wohnzimmereinrichtung gehören. Sie musste zufrieden sein.
    Sie war es nicht. Sie ging ans Fenster und starrte hinaus. Graue Plattenbauten, wenig Grün, aber unten inmitten der abweisenden Häuserfronten spielende Kinder. Maria hatte keinen Freund – die vielen Nachtschichten, die anstrengende Arbeit. Abends war sie müde, ging nicht mehr aus. Es machte ihr nichts aus, redete sie sich ein. Und ein Kind? Wozu ein Kind, sie war doch Säuglingsschwester, hatte jeden Tag mit den Kleinen zu tun.
    Was war das? Weinte sie etwa? Maria strich sich etwas Nasses aus dem Gesicht. Da klingelte es. Sie zuckte zusammen. Es klingelte lange und drängend. Wer mochte das sein um diese Zeit? Maria stürzte zur Tür, zögerte, dachte an das Kind. Niemand durfte es sehen. Da hörte sie eine vertraute Stimme, gedämpft, aber eindringlich: »Machen Sie auf, Schwester Maria, ich bin es, Dr. Vollrath.«
    Erleichtert riss sie Tür auf. Es hätte schlimmer kommen können. »Ich wollte gerade losgehen«, stieß sie atemlos hervor.
    Dr. Vollrath machte eine lasche Handbewegung. »Nicht mehr nötig.« Leise schloss er die Tür. Er warf einen Blick auf den Waschkorb. »Geht es dem Kind gut?«
    Maria nickte, Dr. Vollrath war nervös, das machte ihr Angst. Sie bot ihm einen Platz an. Dr. Vollrath schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht lange bleiben. Hören Sie gut zu, Maria: Sie müssen das Kind noch eine Weile bei sich behalten.« Er machte eine Pause und fuhr leise fort: »Mein Freund Kosznik braucht es nicht mehr. Er und seine Frau – sie sind auf dem Rückweg aus Ungarn bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
    Maria hätte nie gedacht, dass ein tödlicher Autounfall freudige Erleichterung in ihr hervorrufen würde. Aber pflichtschuldig setzte sie eine betroffene Miene auf. »Das ist ja furchtbar.« Hatte das aufrichtig geklungen?
    Dr. Vollrath achtete ohnehin nicht darauf. Bekümmert nickte er. »Wer hätte das gedacht nicht wahr?« Er glaubte, Maria beruhigen zu müssen und berührte sie an der Schulter. »Sie können unbesorgt sein, ich kümmere mich darum, dass der Junge ein anderes, ebenso gutes Zuhause erhalten wird. Aber vorerst – muss ich Sie bitten, sich noch etwas um ihn zu kümmern. Das tun Sie doch, Maria?«
    Sie nickte nur. Hätte sie gesprochen, sie hätte das Jubeln in ihrer Stimme nicht unterdrücken können.
    »Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.« Jetzt lächelte Dr. Vollrath väterlich und drückte sanft ihren Arm. »Am besten, Sie machen jetzt einen Spaziergang mit dem Kind. Ach, Sie haben gar keinen Kinderwagen, nicht wahr? Ich besorge einen. Und die Couchgarnitur ist auch schon bestellt. Ich halte mein Versprechen.«
    »Er hat es gut bei mir«, flüsterte Maria. »Wollen Sie nicht doch einen Kaffee?«
    Dr. Vollrath wollte nicht, und Maria war froh, dass er ging. Als er fort war, ging sie zu dem Waschkorb und nahm den Jungen hoch; der erwachte und lächelte sie an. Bisher hatte Maria Angst gehabt, ihn durch ein Lächeln zu sehr an sich zu binden, jetzt lächelte sie zaghaft zurück. »Wir beide, wir bleiben noch eine Weile zusammen.«
    Ende September wurde Dr. Vollrath in eine Klinik nach Dresden versetzt. Niemand kümmerte sich mehr um einen Säugling, der nach den Unterlagen der Städtischen Klinik einen plötzlichen Kindstod gestorben war. Am 5. Oktober 1969 wurde in der Einwohnerbehörde von Marzahn die Geburt eines Knaben gemeldet: Jan Matuschek, unehelich, Vater unbekannt, Mutter: Maria Matuschek.

2
    Als er zum ersten Mal das Café ›Cosima‹ betrat, wurde er angestarrt – nicht nur von den Gästen an den Kontakttischen am Eingang. Und keiner konnte sich erinnern, ihn je gesehen zu haben. Ein Neuer? Aus der Gegend oder zufällig hereingeschneit? Warum nicht? Die Torten im Café ›Cosima‹ waren berühmt für ihre Qualität. Der ältere Mann in der Ecke, der melancholisch in seinem Milchkaffee rührte, verharrte, seine
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