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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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    20. Mai
    Er starb vor meinen Augen, dieser seltsame und unangenehme Herr.
    Es ging schnell, sehr schnell.
    Die Schüsse krachten, und er wurde gegen das Seil geschleudert.
    Er ließ den kleinen Revolver fallen, griff nach dem schwankenden Geländer und erstarrte mit zurückgeworfenem Kopf. Sein weißes Gesicht mit dem Querstreifen des Schnurrbarts blinkte auf und verschwand wieder hinter dem schwarzen Flor.
    »Erast Petrowitsch!« rief ich, ihn zum erstenmal mit Vor- und Vatersnamen ansprechend.
    Oder hatte ich nur rufen wollen?
    Der unsichere Untergrund schaukelte unter seinen Füßen. Plötzlich flog sein Kopf, wie von einem kräftigen Stoß, nach vorn, der Körper kippte mit der Brust gegen das Seil und stürzte im nächsten Moment mit einer plumpen Drehung hinab, hinab, hinab.
    Die kostbare Schatulle entglitt meinen Händen, schlug auf einen Stein und zerbarst, die Brillanten, Saphire und Smaragde entfachten ein blendendes vielfarbiges Gefunkel, aber ich warf keinen Blick auf die unermeßlichen Schätze, die ins Gras fielen.
    Aus der Schlucht drang der knackende Laut des Aufpralls, und ich stöhnte auf. Die schwarze Gestalt rollte immerschneller den steilen Hang hinunter und kam erst direkt am Bach zum Halten, wo sie willenlos eine Hand ins Wasser tauchte und so liegenblieb, das Gesicht auf den Kieselsteinen.
     
    Ich hatte diesen Mann nicht gemocht. Hatte ihn vielleicht sogar gehaßt. Jedenfalls gewollt, daß er ein für alle Mal aus unserem Leben verschwand. Doch den Tod hatte ich ihm nicht gewünscht.
    Sein Handwerk war das Risiko, er hatte stets mit der Gefahr gespielt, aber sonderbarerweise hätte ich nie gedacht, daß er umkommen könnte. Ich hielt ihn für unsterblich.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so stand und gebannt nach unten starrte. Wahrscheinlich nicht lange. Aber die Zeit hatte gleichsam einen Riß bekommen, war auseinandergebrochen, und ich stürzte in diesen Spalt – in das frühere, sorglose Leben, das genau zwei Wochen zuvor abgerissen war.
    Ja, es war auch ein Montag gewesen, der 6. Mai.

 
    6. Mai
    In Moskau, der alten Hauptstadt des Russischen Reiches, kamen wir am Morgen an. Wegen der bevorstehenden Krönungsfeierlichkeiten war der Nikolaus-Bahnhof überlastet, und unser Zug wurde zum Brester Bahnhof umgeleitet, was ich seitens der örtlichen Behörden, gelinde gesagt, unkorrekt fand. Darin äußerte sich wohl auch die Kühle in den Beziehungen zwischen Seiner Hoheit Georgi Alexandrowitsch und Seiner Hoheit Simeon Alexandrowitsch, dem Moskauer Generalgouverneur. Anders kann ich mir den demütigenden halbstündigen Halt auf dem Rangierbahnhof und die folgende Umleitung des Expreßzuges auf den zweitklassigen Brester Bahnhof nicht erklären.
    Und es empfing uns auf dem Bahnsteig auch nicht Großfürst Simeon persönlich, wie es das Protokoll, die Tradition und nicht zuletzt die Achtung gegenüber dem älteren Bruder geboten hätten, sondern lediglich der Vorsitzende des Empfangskomitees, ein Minister, der übrigens gleich zum Nikolaus-Bahnhof weiterfuhr, um den Kronprinzen von Preußen zu begrüßen. Seit wann wurde dem preußischen Thronfolger in Moskau mehr Achtung erwiesen als dem Onkel Seiner Majestät, dem General-Admiral der russischen Flotte, der in der Rangfolge der kaiserlichen Großfürsten den zweiten Platz einnahm? Großfürst Georgi ließ sich nichts anmerken, aber ich denke, ihn entrüstete der deutliche Affront nicht weniger als mich.
    Zum Glück war Großfürstin Jekaterina Ioannowna, die penibel auf die Feinheiten des Rituals und die Wahrung der Würde achtet, in Petersburg geblieben. Ihre vier mittleren Söhne, Alexej Georgijewitsch, Sergej Georgijewitsch, Dmitri Georgijewitsch und Konstantin Georgijewitsch, waren an den Masern erkrankt, was Ihre Hoheit, eine vorbildliche und liebevolle Mutter, daran hinderte, zur Krönung, dem höchsten Ereignis im Leben des Reiches und der kaiserlichen Familie, zu reisen. Allerdings behaupteten böse Zungen, ihr Fernbleiben erkläre sich weniger aus mütterlicher Liebe als vielmehr aus der Unlust, dem Triumph der jungen Zarin in der Rolle einer Statistin beizuwohnen. Man erinnerte sich an die Geschichte auf dem vorjährigen Weihnachtsball. Die neue Zarin hatte den Damen der kaiserlichen Familie vorgeschlagen, einen Handarbeitszirkel zu gründen, um warme Mützchen für die Waisenkinder des Marien-Stifts zu stricken. Vielleicht hatte die Großfürstin wirklich zu schroff auf dieses Ansinnen reagiert. Ich schließe auch nicht aus,
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