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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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Autorität der Monarchie über allem. Ich sage jetzt Worte, die euch vielleicht ungeheuerlich vorkommen, aber ich bin verpflichtet, sie zu sagen. Mika ist gestorben und weilt nun in himmlischen Gefilden. Es ist uns nicht gelungen, ihn zu retten. Dafür ist die Ehre und die Reputation der Romanows gerettet. Das grauenhafte Ereignis ist nicht in die Öffentlichkeit gedrungen. Und das ist das Wichtigste. Ich bin sicher, Onkel Georgie, daß dieser Gedanke dir hilft, die Trauer um deinen Sohn ein wenig zu mildern. Ungeachtet aller Erschütterungen ist die Krönung reibungslos verlaufen. Fast reibungslos«, fügte er hinzu und verdüsterte sich – er dachte wohl an das Unglück auf dem Chodynka-Feld, und das verdarb ein wenig den Eindruck der kleinen Rede, die von wahrer Größe getragen war.
    Noch mehr schwächte Großfürst Georgi die Wirkung ab, indem er halblaut sagte. »Wir werden sehen, Nicky, was du über Vatergefühle sagen wirst, wenn du eigene Kinder hast.«
     
    Im Korridor trat Großfürstin Xenia auf mich zu. Sie umarmte mich schweigend, lehnte den Kopf an meine Schulter und ließihren Tränen freien Lauf. Ich stand unbeweglich und strich ihr nur behutsam übers Haar.
    Schließlich richtete sie sich auf, schaute zu mir hoch und fragte verwundert: »Afanassi, du weinst nicht? Mein Gott, was ist mit deinem Gesicht?«
    Ich verstand nicht, was sie meinte, und drehte den Kopf zu dem Wandspiegel.
    Mein Gesicht sah aus wie immer, nur ein wenig erstarrt.
    »Hast du ihm meine Worte ausgerichtet?« fragte sie flüsternd und schluchzte. »Hast du ihm gesagt, daß ich ihn liebe?«
    »Ja«, antwortete ich zögernd, denn ich hatte nicht gleich begriffen, was sie meinte.
    »Und was hat er gesagt?« Ihre Augen, in denen Tränen standen, blickten mich voller Hoffnung und Angst an. »Hat er dir etwas für mich gegeben?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein. Nur das hier.«
    Ich holte die Ohrgehänge und die brillantenbesetzte Brosche hervor.
    »Er hat gesagt, er braucht es nicht.«
    Sie zog für einen Moment die Lider zusammen, das war alles. Nicht umsonst hatte man ihr von klein auf Beherrschung anerzogen. Es flossen auch keine Tränen mehr über ihre zarten Wangen.
    »Danke, Afanassi«, sagte sie leise.
    Ihre Stimme klang so müde, als wäre die Großfürstin nicht neunzehn Jahre alt, sondern mindestens vierzig.
     
    Ich ging auf die Veranda. Das Atmen machte Mühe. Gegen Abend hatte sich der Himmel über Moskau bezogen. In der Nacht würde es wohl ein Gewitter geben.
    Ich war in einem seltsamen Gemütszustand. Das Schicksal und die kaiserliche Gnade hatten mich mit märchenhafter Großzügigkeit beschenkt, mich in eine Höhe gehoben, von der ich nicht einmal geträumt hatte, dennoch hatte ich das Gefühl, alles, was ich besaß, verloren zu haben, für immer.
    In den Baumwipfeln säuselte der Wind, ließ das Laub erzittern, und mir fiel plötzlich Endlungs Vorschlag ein, zur See zu gehen. Ich stellte mir den reinen Horizont vor, die Schaumkronen auf den Wellen, den frischen Atem der Brise. Natürlich war es Blödsinn.
    Durch die Glastür kam Mr. Freyby zu mir heraus. Für ihn waren die letzten Tage auch kein Zuckerschlecken gewesen. Er war allein zurückgeblieben, ohne seine Dienstherrschaft. Er hatte unter schwerem Verdacht gestanden, war einem vielstündigen Verhör unterzogen worden und mußte nun zusammen mit dem Gepäck den Bleisarg mit dem toten Mr. Carr nach England überführen. Doch alle diese Prüfungen waren dem Butler nicht im geringsten anzusehen – er wirkte genauso phlegmatisch und gutmütig wie immer.
    Er nickte mir freundlich zu, blieb bei mir stehen und zündete seine Pfeife an.
    Seine Gesellschaft war mir durchaus recht, denn mit ihm konnte ich schweigen, ohne die geringste Peinlichkeit zu empfinden.
    An der Auffahrt stand eine Reihe von Equipagen zur Abfahrt bereit.
    Da stiegen auch schon die Majestäten die Treppe hinab, begleitet von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie.
    Auf der letzten Stufe stolperte der Zar und wäre beinahe gestürzt – Großfürst Kirill konnte seinen gekrönten Neffen gerade noch am Ellbogen festhalten.
    Neben seinen großen, stattlichen Onkeln sah der Zar ganz unscheinbar aus, wie ein schottisches Pony unter reinrassigen Rennpferden. Gottes Vorsehung ist wahrlich unerforschlich, dachte ich. Von allen Romanows hat der Herr gerade diesen auserwählt, um auf seine schwachen Schultern die schwere Last der Verantwortung für das Schicksal der Monarchie zu legen.
    Das Zarenpaar
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