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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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Lichter versprühend, ins Gras.
    Das Doppelecho der Schüsse rollte durch die Schlucht und verebbte. Es war wieder sehr still. Vögel sangen, irgendwo in der Ferne heulte eine Fabriksirene und kündete vom Beginn der Schicht. Dann ertönte ein schnelles Klappern – so klirrt das Teeglas im Untersatz, wenn der Schnellzug mit Volldampf dahinrast.
    Ich begriff nicht sofort, daß es meine Zähne waren, die aufeinanderschlugen.
    Jenseits der Schlucht lag ein regloser Körper.
    Der andere lag unter der weit ausgebreiteten Kutte unten, am Rande des Bachs. Der Dunst, der eben noch den Grund der Schlucht bedeckt hatte, lichtete sich, und ich sah, daß dieHand des Toten im Wasser lag. Hoffnung, daß Fandorin einen solchen Sturz überlebt hatte, gab es nicht, gar zu hart hatte der Aufprall geklungen.
    Ich hatte diesen Mann nicht gemocht. Hatte ihn vielleicht sogar gehaßt. Jedenfalls gewollt, daß er ein für alle Mal aus unserem Leben verschwand. Doch den Tod hatte ich ihm nicht gewünscht.
    Sein Handwerk war das Risiko, er hatte stets mit der Gefahr gespielt, aber sonderbarerweise hätte ich nie gedacht, daß er umkommen könnte. Ich hielt ihn für unsterblich.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so stand, das Seil umklammernd und nach unten blickend. Vielleicht einen Moment, vielleicht eine Stunde.
    Ein Sonnenkringel, der mir aus dem Gras direkt ins Auge fuhr, brachte mich zur Besinnung. Ich zuckte zusammen, starrte verständnislos auf die Quelle des Lichts und sah die gelben sternförmigen Brillanten des Diadems. Ich trat von der Brücke auf die Erde, um die verstreuten Juwelen einzusammeln, tat es aber nicht – die liefen nicht weg.
    Fandorin, wie immer er gewesen war, hatte nicht verdient, wie ein verendetes Tier auf dem nassen Geröll zu liegen.
    Ich bekreuzigte mich und stieg, mich an Grasbüscheln festhaltend, hinunter. Zweimal rutschte ich aus, fiel aber nicht.
    Als ich vor dem Toten stand, wußte ich nicht, was ich tun sollte. Schließlich beugte ich mich hinab, faßte ihn bei den Schultern und begann ihn auf den Rücken zu drehen. Wozu, wußte ich selbst nicht. Der Anblick war einfach unerträglich: Fandorin, der immer so elegant und voller Leben gewesen war, lag mit häßlich verrenktem Körper da, und seine leblos herabhängende Hand wurde vom schnell fließenden Wasser bewegt.
    Er war bedeutend leichter, als ich erwartet hatte. Ohne große Mühe drehte ich ihn auf den Rücken. Ein wenig zögernd hob ich den Flor vom Gesicht und …
    Nein, hier muß ich unterbrechen. Denn ich habe keine Worte, um zu beschreiben, was ich in dem Moment empfand, als ich den angeklebten schwarzen Schnurrbart und das purpurrote Blut sah – es floß in dünnem Rinnsal aus dem Mund der toten Mademoiselle Déclic.
    Sicherlich fühlte ich gar nichts, mich muß eine Art paralysie émotionnelle ergriffen haben, ich weiß nicht, wie ich es in meiner Muttersprache sagen soll.
    Ich fühlte nichts, begriff nichts, versuchte nur immerzu das Blut von Emilies blassen Lippen zu wischen, aber es rann und rann aus ihrem Mund und war nicht zu stoppen.
    »Ist sie tot?« rief jemand von oben.
    Ohne mich im geringsten zu wundern, wandte ich langsam den Kopf.
    Den gegenüberliegenden Hang kam, sich die Schulter haltend, Fandorin herabgestiegen.
    Sein Gesicht kam mir unnatürlich weiß vor, und zwischen seinen Fingern sickerten rote Tropfen.
     
    Fandorin redete, ich hörte zu. Ich fühlte mich etwas taumelig, darum sah ich meist nach unten, auf die Erde – ob sie mir nicht endgültig unter den Füßen wegglitt.
    »Ich bin gestern morgen d-draufgekommen, als wir sie verabschiedeten. Erinnern Sie sich, wie sie über die Ritter mit dem Brecheisen scherzte? Das war unvorsichtig. Wie konnte sie, im Keller eingesperrt und angekettet, sehen, daß wir die Tür mit dem Brecheisen des Hausmeisters aufzubrechen versuchten? Sie hätte wohl auch kaum den Krach gehört. Alsomuß sie hinter der Gardine gestanden und uns b-beobachtet haben.«
    Fandorin verzog das Gesicht und wusch die Wunde mit Wasser aus dem Bach.
    »Ich weiß nicht, ob der Knochen getroffen ist … Wohl nicht. Zum Glück war es ein kleines K-Kaliber. Aber was für eine Treffsicherheit! Gegen die Sonne, ohne zu zielen! Eine erstaunliche Frau … Ja, als sie das vom Brecheisen sagte, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich dachte: Was für ein Interesse sollen die Banditen gehabt haben, Emilie im Hemd in den Keller zu sperren? Sexuelle Ansinnen seitens dieser Bande von Frauenhassern waren
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