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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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ausgeschlossen, und überhaupt hätte ihnen nach Emilies Worten der Anblick eines Frauenkörpers Abscheu einflößen müssen. Und nun erinnern Sie sich an die im H-Haus verstreute Männerkleidung. Es ist alles ganz einfach, Afanassi Stepanowitsch. Wir haben Lind überrascht, und statt zu fliehen, hat er (wenn Sie erlauben, werde ich es aus Gewohnheit beim männlichen Geschlecht des Doktors belassen) einen kühnen Zug gemacht. Er warf die Männersachen ab, streifte rasch ein Hemd aus der Garderobe von Mademoiselle Déclic über, stieg in den Keller und kettete sich selbst an. Lind hatte nicht mal mehr Zeit, die Schatulle zu verstecken.«
    Langsam und vorsichtig richtete ich den Blick auf die am Boden Liegende. Ich wollte noch einmal in das leblose Gesicht blicken, aber meine Augen stockten bei dem Bluterguß, der aus dem geöffneten Kragen der Kutte herausschaute. Es war derselbe, den ich schon in unserer Wohnung in der Archangelski-Gasse gesehen hatte.
    Da lichtete sich plötzlich der dichte Schleier, der mein Gehirn umfangen hielt.
    »Und die Verletzungen und Prellungen?« schrie ich. »Die hat sie sich doch nicht selber beigebracht! Nein, Sie haben unrecht! Es ist ein furchtbarer Fehler passiert!«
    Fandorin packte mich am Ellbogen und schüttelte mich.
    »Beruhigen Sie sich. Die Verletzungen und Prellungen hat Lind auf dem Chodynka-Feld davongetragen. Er wurde mächtig gequetscht und gestoßen, denn er war ja mitten im dicksten Gewühl.«
    Ja. Ja. Fandorin hatte recht. Natürlich hatte er recht. Der rettende Schleier hüllte mich wieder ein, und ich konnte weiter zuhören.
    »Ich hatte inzwischen genügend Zeit, um den Plan von Linds Moskauer Unternehmung zu rekonstruieren.« Fandorin zerriß mit den Zähnen ein Taschentuch, verband notdürftig die Wunde und wischte sich große Schweißtropfen von der Stirn. »Der Doktor konnte sich in aller Ruhe vorbereiten. Denn seit dem vorigen Jahr war bekannt, wann die Krönung stattfindet. Die Idee war genial: Erpressung des K-Kaiserhauses. Lind hatte richtig kalkuliert, daß die Romanows aus Angst vor einem weltweiten Skandal große Opfer bringen würden. Er suchte sich eine ausgezeichnete Position für die Leitung der Operationen – im Innern der Familie, gegen die er den Schlag zu führen gedachte. Wer würde die nette Gouvernante einer solchen Untat verdächtigen? Reverenzen zu fälschen fiel Lind dank seiner weitverzweigten Verbindungen nicht schwer. Er stellte ein ganzes K-Kommando zusammen – außer seinen ständigen Komplizen bezog er die Warschauer ein, und die machten ihm eine Verbindung zu den Gaunern von Chitrowka. Dieser Mensch war ein außergewöhnlicher Stratege.«
    Fandorin betrachtete nachdenklich die zu seinen Füßen liegende Frau.
    »Dennoch ist es seltsam, daß ich von Lind nicht als von ›ihr‹ sprechen kann.«
    Endlich zwang ich mich, auf Emilies totes Gesicht zu blicken. Es war ruhig und rätselhaft, auf der Nasenspitze hatte sich eine fette schwarze Fliege niedergelassen. Ich hockte mich hin und verscheuchte das widerliche Insekt.
    »Das größte Geheimnis von Linds M-Macht lag gerade in der Weiblichkeit. Das war eine sehr sonderbare Bande, Sjukin. Eine Bande von Erpressern und Mördern, in der die Liebe herrschte. Linds Männer waren alle verliebt in ihn … in sie, jeder auf seine Weise. Die wahre Genialität von ›Mademoiselle Déclic‹ bestand darin, daß sie den Schlüssel zu jedem Männerherzen fand, sogar zu einem, das gar nicht für die Liebe eingerichtet ist.«
    Ich fühlte seinen Blick auf mir ruhen, hob aber nicht die Augen. Über Emilies Gesicht krochen schon zwei Fliegen, die mußte ich vertreiben.
    »Sjukin, wissen Sie, was mir Somow vor seinem T-Tod gesagt hat?«
    »Er ist auch tot?« fragte ich ohne Interesse.
    In dem Moment bemerkte ich, daß eine ganze Kolonne von Ameisen Emilies Ärmel hinaufkrabbelte, so daß ich genug zu tun hatte.
    »Ja. Die Überprüfung war sehr einfach. Ich habe ihm den Rücken zugekehrt. Und er hat nicht gezögert, sich meine angebliche L-Leichtgläubigkeit zunutze zu machen. Es gab einen kurzen Kampf, der damit endete, daß Ihr G-Gehilfe in sein eigenes Messer stürzte. Schon im Todeskampf röchelnd, hat er versucht, meine Gurgel zu packen. Ich bin nicht ängstlich, aber beim Anblick einer so rasenden Wut ist es mir kalt über den Rücken gelaufen. Ich sagte zu ihm: ›Was, was habenSie alle bei ihr gefunden?‹ Und wissen Sie, was er mir geantwortet hat? ›Liebe.‹ Das war sein letztes Wort. O ja,
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