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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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hätte, wäre das Duell für mich noch trauriger ausgegangen …«
    Ich dachte an nichts in diesen Minuten, hörte nur zu. Fandorin wandte den Blick von mir zu der Toten und kniff die kalten blauen Augen ein.
    »Ich weiß nicht, was sie mit Ihnen v-vorhatte«, sagte er nachdenklich. »Einfach töten? Vielleicht auf ihre Seite ziehen? Was meinen Sie, wäre ihr das gelungen? Hätte eine Viertelstunde gereicht, Sie um der Liebe willen alles andere vergessen zu machen?«
    Etwas regte sich in mir bei diesen Worten – Kränkung oder Zorn, jedenfalls ein ungutes Gefühl, das aber vage, sehr vage war. Außerdem fiel mir ein, daß ich noch etwas fragen mußte, daß ich dazu verpflichtet war.
    Ach ja.
    »Und der kleine Großfürst? Wo ist er?«
    Über Fandorins müdes und blasses, aber immer noch sehr schönes Gesicht huschte ein Schatten.
    »Das f-fragen Sie noch? Der Junge wurde getötet. Ich denke, an dem Tag, an dem Sie, um ihn zu retten, hinter der Kutsche her liefen. Lind beschloß, kein Risiko mehr einzugehen, und wählte als Mittelsmann Mademoiselle Déclic, das heißt, sich selbst. Vielleicht war es auch von Anfang an so gedacht. Unsere Emilie kam mit dieser Rolle glänzend zurecht. Zur größeren Glaubwürdigkeit führte sie uns sogar zu der Gruft, aus der man durch einen unterirdischen Gang so leicht entkommen konnte. Es wäre ihr alles geglückt, wenn nicht meine kleine Überraschung mit dem Kutscher gewesen wäre.«
    »Aber an dem Tag war Seine Hoheit noch am Leben!« entgegnete ich.
    »Wie kommen Sie darauf? Lind, das heißt, Emilie hat von unten heraufgerufen, daß der Junge lebt. In Wirklichkeit war er gar nicht dort. Er lag schon seit Tagen am Grunde des Flusses oder in irgendeiner G-Grube. Am widerlichsten ist, daß sie dem Jungen, bevor sie ihn töteten, noch den Finger abgeschnitten haben.«
    Das zu glauben war unmöglich.
    »Woher wollen Sie wissen, daß er da noch lebte? Sie waren doch nicht dabei!«
    Fandorin runzelte die Stirn.
    »Aber ich habe den Finger gesehen. An den getrockneten Blutstropfen war zu erkennen, daß er nicht einem Toten abgeschnitten wurde. Darum habe ich so lange geglaubt, daß der Junge zwar krank und von Narkotika betäubt ist, jedoch noch lebt.«
    Ich blickte wieder auf Emilie, diesmal lange und aufmerksam. Das ist Doktor Lind, sagte ich mir, der den Jungen gequält und getötet hat. Aber Lind war Lind, und Emilie blieb Emilie – zwischen ihnen bestand keine Verbindung.
    »Sjukin! Afanassi Stepanowitsch, wachen Sie auf!«
    Ich drehte mich langsam zu Fandorin um und begriff nicht, was er noch von mir wollte.
    Er krümmte sich vor Schmerzen, als er den Gehrock anzog.
    »Ich m-muß verschwinden. Ich habe Lind vernichtet, habe den ›Orlow‹ bewahrt und die Juwelen der Zarin zurückgeholt, doch den kleinen Großfürsten konnte ich nicht retten. Der Zar braucht mich jetzt nicht mehr, und die Moskauer Obrigkeit ist mir seit l-langem feindselig gesonnen … Ich reise ins Ausland, hier habe ich nichts mehr zu tun. Nur …«
    Er machte eine Handbewegung, als wolle er noch etwas sagen, könne sich aber nicht entschließen.
    »Ich habe eine Bitte an Sie. Richten Sie Xenia Georgijewna aus, daß … daß ich viel über unseren Streit nachgedacht habe … und nicht mehr so sicher bin, recht zu haben. Werden Sie sich das m-merken? Sie wird verstehen, was ich meine … Und geben Sie ihr das hier.« Er hielt mir einen Zettel hin. »Das ist die Pariser Adresse, unter der sie sich mit mir in Verbindung setzen kann. Werden Sie das für mich tun?«
    »Ja«, sagte ich mit hölzerner Stimme und steckte den Zettel in die Tasche.
    »Nun, dann l-leben Sie wohl.«
    Das Gras raschelte – Fandorin stieg den Hang hinauf. Ich sah ihm nicht nach.
    Einmal fluchte er – offenbar machte ihm die verwundete Schulter zu schaffen, aber ich drehte mich trotzdem nicht um.
    Ich dachte daran, daß ich die verstreuten Juwelen einsammeln mußte: das Diadem, die Brillantagraffe, die Saphirschleife, das kleine Bouquet, die Aigrette.
    Aber vor allem – was sollte mit Mademoiselle Déclic werden? Ich konnte natürlich ins Parkkontor gehen und Angestellte holen, damit sie den Leichnam hinauftrugen. Aber ich brachte es nicht über mich, Emilie allein zu lassen, dann würden Ameisen auf ihr herumkrabbeln und Fliegen sich auf ihr Gesicht setzen.
    Sie war zwar nicht schwer (ich hatte sie ja schon einmal getragen), aber würde ich sie den steilen Hang hinaufbekommen?
    Es lohnte den Versuch.
     
    »… tiefsten Dank der
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