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Elfenschwestern

Elfenschwestern

Titel: Elfenschwestern
Autoren: Ravensburger
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    1
    The iron tongue of midnight hath told twelve.
Lovers, to bed; ’ tis almost fairy time. ~ Die Mitternacht rief Zwölf mit eh ’ rner Zunge.
Zu Bett, Verliebte, bald ist Geisterzeit.*
    Der Tag, an dem Lily ihren kleinen Bruder verlor, brachte den ersten Schnee.
    „Siehst du das, Tiger?“, rief Gray, der keuchend neben Lily hertrabte.
    „Was?“, fragte Lily atemlos zurück.
    Die Geschwister liefen über Kopfsteinpflaster. Lily spürte die kalte Dezemberluft wie Nadelstiche in der Brust und das Gewicht ihrer Büchertasche schwer auf der Schulter. Sie schob den Riemen mit einem Ruck höher, während sie sich ihrem Bruder zuwandte.
    Gray war etwas langsamer geworden und streckte das Gesicht dem schwarzen Himmel entgegen. Den ganzen Tag schon hatte es über Pipers Corner geregnet, aber inzwischen taumelten die Tropfen eher zu Boden, als dass sie fielen. Manche wirbelten unentschlossen im gelben Laternenlicht umher, bevor sie auf das nasse Pflaster sanken.
    „Schneeflocken“, sagte Gray zufrieden, als eine auf seiner Wange schmolz. „Gerade heute.“ Mit himmelwärts gerichtetem Gesicht lief er weiter.
    „Fall nicht!“
    Prompt strauchelte Gray.
    Lily schnappte erschrocken nach Luft. Sie erwischte ihren Bruder gerade noch rechtzeitig an der Kapuze und zog ihn wieder in die Senkrechte.
    „Hand!“, kommandierte sie.
    Und obwohl Gray erst vor Kurzem erklärt hatte, er sei viel zu alt, um noch an der Hand seiner Schwestern oder seiner Mutter zu gehen, packte er sofort mit seinen kleinen klammen Fingern ihre und hielt sie fest.
    „Wir sind fast da“, versprach Lily. „Guck, da vorne ist schon der Fluss. Endspurt, ja?“
    Gray nickte. Das goldblonde Haar klebte an seinen Schläfen, aber er lächelte. Lily versetzte es einen Stich.
    „Rennen?“, fragte Gray.
    „Rennen!“, rief Lily.
    Und sie rannten.
    Die Büchertasche schlug gegen Lilys Hüfte, während sie über die schmale Brücke am Pine Ridge jagten. Das schwarze Wasser brodelte unter ihnen, die Kiefern am Ufer beugten sich in einer plötzlichen Windbö. War es diese Brise, die Lily unter den Mantel fuhr? Kalt rieselte es ihr den Rücken herunter. Sie konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und schüttelte sich wie eine nasse Katze.
    Gray lachte atemlos. „Was ist los, Tiger? Witterst du etwas?“ Er sah sich auf der menschenleeren Brücke um. „Gespenster?“
    Lily verdrängte ihr Unbehagen. „Schneller“, rief sie.
    Sie überquerten die letzte Kreuzung, platschten durch eine Pfütze und stürmten in die Bahnhofshalle. Die Züge nach London fuhren immer von Gleis eins, Lily sah ihren schon von Weitem.
    „Wir kriegen ihn noch“, keuchte sie, warf sich nach vorne durch die Schranken, zog Gray hinter sich her und schwang ihn die Stufen hinauf in einen Waggon. Sie sprang hinterher, gerade als der Pfiff des Schaffners über den Bahnsteig gellte. Die Türen schlugen zu, der Zug fuhr an.
    Geschafft.
    Lily ließ sich auf den nächsten freien Platz fallen, Gray plumpste ihr gegenüber in die Polster. Wie er so in seinem Sitz ganz nach hinten rutschte, reichten seine Füße nicht bis auf den Boden. Die dicken Gummisohlen seiner Schnürschuhe streiften Lilys bestrumpfte Knie. Seine sonst so hellen Wangen glühten rot, seine Augen strahlten. Er schüttelte sich mit der für ihn so typischen Bewegung die Locken aus der Stirn. Ganz kurz sah Lily seine spitzen Ohren aufblitzen.
    Lily spürte wieder diesen Stich in der Herzgegend. Und weil sie wusste, dass ihr Bruder sich sträuben würde, sollte sie versuchen, ihn stürmisch zu umarmen, beugte sie sich nur vor und wuschelte ihm durchs Haar.
    Gray knurrte milde. Er öffnete seinen dunkelblauen Anorak, lehnte sich zurück in das weiche Kissen seiner mit Pelz gefütterten Kapuze und blickte aus dem Fenster.
    Lily folgte seinem Beispiel. Die Moore und Wälder huschten als geisterhafte Schemen vorüber. Aber es war inzwischen schon so dunkel draußen, dass die Scheibe zum Spiegel wurde. Und sie zeigte: Die Tatzengeschwister.
    Vor drei Jahren, als Gray erst fünf war, sagte er zu Lily: „Ich will sein wie du, Tiger. Eine Raubkatze, stark und schön.“
    Die dreizehnjährige Lily entgegnete nicht: „Wer ist hier stark? Wen nennst du schön?“ Stattdessen antwortete sie: „Gut gebrüllt, Löwe.“
    „Du meinst, ich bin ein Löwe?“ Gray war vor Glück sprachlos.
    „Du bist der König der Tiere, wer sonst?“, sagte sie.
    Lily betrachtete ihren Bruder und sich in dem spiegelnden Fenster des Zuges. Sie beide
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