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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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wenn er ein richtiger Held und ein besonderer Mensch ist, überleben.« Sie hielt inne. »Aber wenn Ihnen etwas zustößt, dann, fürchte ich …«
    Sie sprach nicht zu Ende, das war auch nicht notwendig.
    Völlig aus der Fassung gebracht, stammelte ich kläglich:»Danke, Mademoiselle Déclic. Ich werde mich morgen früh mit Ihnen in Verbindung setzen.«
    Dann hängte ich rasch den Hörer ein.
    Mein Gott, hatte ich mich auch nicht verhört? Und hatte ich den Sinn ihrer Worte richtig verstanden?
    Überflüssig zu sagen, daß ich bis zum Morgengrauen kein Auge zutat.

 
    20. Mai
    Aus alter Gepflogenheit war ich vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt.
    Zwanzig Minuten vor sechs erreichte ich mit der Droschke die Hauptallee des Sperlings-Parks, die um diese frühe Stunde menschenleer war. Ich ging den sandigen Weg entlang, warf einen zerstreuten Blick nach links, hinab auf die in graublaue Schatten gehüllte Stadt, und blinzelte gegen die grelle Sonne. Das Panorama war überaus schön, und die morgendlich frische Luft stieg zu Kopfe, aber mein Gemütszustand ließ keine poetische Schwärmerei zu. Das Herz blieb bald stehen, bald hämmerte es wie verrückt, mit dem rechten Arm drückte ich die Schatulle fest an den Körper, und auf der Brust, unter dem Unterhemd, schaukelte in dem Stoffsäckchen sacht der zweihundertkarätige Brillant. Mir kam ein seltsamer Gedanke: Wieviel bin ich, Afanassi Sjukin, jetzt wert? Für die Romanow-Dynastie sehr viel, unvergleichlich viel mehr als der Sjukin ohne Schatulle und ohne »Orlow«. Aber ich selbst war mir genauso viel wert wie vor einer Woche oder einem Jahr. Und für Emilie hatte sich mein Wert durch all die Brillanten, Rubine und Saphire, so mußte ich annehmen, auch keinen Deut verändert.
    Diese Entdeckung verlieh mir Kraft. Ich fühlte mich nicht mehr als klägliches, unwürdiges Gefäß, dem eine Laune des Schicksals vorübergehend Kostbarkeiten von unschätzbaremWert zur Aufbewahrung anvertraut hat, sondern als Verteidiger und Retter der Dynastie.
    Als ich mich dem Gebüsch näherte, hinter dem sich die Hängebrücke befinden mußte, sah ich wieder auf die Uhr. Viertel vor sechs.
    Noch ein paar Schritte, und da war auch schon die Schlucht mit ihren grasbewachsenen steilen Hängen, denen der Tau einen kalten metallischen Glanz verlieh. Von unten klang das friedliche Murmeln des Bachs herauf, der unter dem leichten Dunst nicht zu sehen war. Aber mein Blick glitt nur flüchtig in die Tiefe und richtete sich dann sofort auf die schmale Brücke. Dort stand schon Fandorin und wartete auf mich.
    Er winkte und kam mir rasch entgegen, schritt sicher über das schwankende Bretterband. Die Schlankheit seiner aufrechten Gestalt konnte weder die sackartige Kutte noch die schwarze Mönchskappe mit dem auf die Schulter herabfallenden Flor verdecken.
    Uns trennten nicht mehr als zwanzig Schritte. Die Sonne schien ihm in den Rücken, und ich hatte plötzlich den Eindruck, als stiege die schwarze Silhouette, wie von einem flirrenden Heiligenschein umflossen, auf einem goldenen Strahl geradenwegs vom Himmel zu mir herab.
    Ich hielt mich an dem Seil fest, das ein Geländer ersetzte, und trat auf die federnde Brücke.
    Das Weitere ging sehr schnell. So schnell, daß ich nicht mehr dazu kam, auch nur einen Schritt zu machen.
    Von der gegenüberliegenden Seite der Schlucht kam eine schmale schwarze Gestalt auf die Brücke zugeflogen – ich sah, daß ein Arm länger war als der andere und in der Sonne funkelte. Der Lauf einer Pistole!
    »Vorsicht!« rief ich. Fandorin drehte sich blitzschnell um,und aus dem Ärmel der Kutte schnellte die Hand mit einem kleinen Revolver.
    Er wankte, offenbar geblendet von der Sonne, schoß aber im selben Moment. Fast gleichzeitig krachte auch Linds Waffe.
    Beide hatten getroffen.
    Die schmale Gestalt auf der anderen Seite der Schlucht fiel rücklings zu Boden, aber auch Fandorin wurde nach hinten und zur Seite geschleudert. Er griff nach dem Seil, hielt sich noch einen Moment auf den Beinen, sein weißes Gesicht mit dem Querstreifen des Schnurrbarts blinkte auf und verschwand wieder hinter dem schwarzen Flor. Dann taumelte er, kippte über das Seil und stürzte hinunter.
    Die Brücke schlug wie betrunken nach links und rechts aus, und ich mußte mich mit beiden Händen an dem schwankenden Seil festhalten. Die Schatulle entglitt mir, schlug auf ein Brett, dann auf einen Stein und brach auseinander, und die Kleinodien Ihrer Majestät fielen, eine Garbe bunter
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