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Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)

Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)

Titel: Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Autoren: Karen McQuestion
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1
    Sie kam zu spät.
    Sie waren beinah fertig, als die junge Frau aufgeregt und mit einer Entschuldigung auf den Lippen ins Klassenzimmer stürmte. Während die Tür aufflog und Marnie sie zum ersten Mal sah, glaubte sie, die junge Frau habe sich im Zimmer geirrt. Zum einen war sie viel jünger als der Rest der Gruppe – Anfang zwanzig, nach ihrem Aussehen zu schließen. Und zum anderen war sie mit ihrem glatten blonden Haar und den hellblauen Augen auffällig schön. Auch ihre Art sich zu bewegen, unterschied sich enorm von der der anderen Frauen, die sich alle vorher hereingeschleppt hatten wie Gefangene auf dem Weg zum Schafott. Das Mädchen strahlte eine unglaubliche Energie aus. Mit klingelnden Armreifen und einer großen Tasche über der Schulter kam sie hereingehüpft. »Es tut mir wirklich leid«, sagte sie. »Der Verkehr war furchtbar und dann habe ich das Zimmer nicht gefunden ...«
    Die Kursleiterin, Debbie, eine Frau mit rundlichem Gesicht, zeigte auf den leeren Stuhl neben Marnie und holte ein Namensschildchen für die frisch Eingetroffene hervor. Vor der Unterbrechung hatten sie über Dinge gesprochen, die sie aufheiterten, wenn sie sich deprimiert fühlten. Debbie hatte ihnenfünf Minuten gegeben, um ihren ›Stimmungsaufheller‹ zu notieren, aber Marnie war nichts eingefallen. Während alle anderen Frauen wie wild Karteikarten ausfüllten, saß sie einfach nur mit leerem Kopf da.
    Die junge Frau nahm das Namensschildchen entgegen und holte einen violetten Filzstift aus ihrer Tasche. Als sie sich vorbeugte, um ihren Namen auf das Schildchen zu schreiben, fiel ihr Haar nach vorne und verdeckte Marnie die Sicht.
    Dies hier war die erste Kursstunde, aber sie wussten schon, wie es lief. Sie saßen im Kreis und die Kursleiterin rief eine nach der anderen im Uhrzeigersinn auf. Marnie hoffte, dass die Stunde herum sein würde, bevor sie an der Reihe war, aber das war knapp kalkuliert. Es kamen nur noch zwei Frauen vor ihr und dann war sie dran. Debbie zeigte auf eine Frau, die sich räusperte, bevor sie die Notiz von ihrer Karte ablas. »Etwas, was mich wirklich aufmuntert, ist, wenn mein Mann an kalten Tagen das Auto für mich vorwärmt.« Sie war über das Wort ›Mann‹ gestolpert und ein betroffener Ausdruck war über ihr Gesicht gehuscht, als wäre ihr etwas eingefallen. Marnie wusste, was sie dachte. So viele in der Gruppe waren Witwen, dass die Erwähnung eines noch lebenden Ehemannes kaltschnäuzig wirkte.
    Aber sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Diese Gruppe wusste, was Leid war, und keine Frau wünschte der anderen ihr ganz spezielles Unglück an den Hals. »Das ist nett«, meinte jemand leise und die anderen nickten zustimmend.
    Eine Frau namens Leticia kam als nächste dran. »Wenn ich wirklich deprimiert bin, schaue ich gern bei Starbucks vorbei und genehmige mir einen kalorienarmen Vanilla Latte.«
    »Und wieso hellt das Ihre Stimmung auf?«, fragte Debbie.
    »Oh, ich weiß nicht.« Leticia verbog ihre Karteikarte. »Ich mag es wohl, wie der Kaffee riecht. Und ich beobachte gerne die Leute. Das lenkt mich von meinen Alltagssorgen ab.«
    »Ausgezeichnet, ausgezeichnet!« Debbie zeigte mit dem Daumen nach oben. »Liebe Leute, das ist ein großartiges Beispiel für Initiative. Leticia schaut mit voller Absicht bei Starbucks vorbei, weil sie weiß, dass es ihr dann besser geht.«
    »Und außerdem versuche ich, meine Geschenkgutscheine aufzubrauchen«, setzte Leticia hinzu.
    »Das Leben geht weiter«, sagte Debbie und deutete mit dem Finger auf Marnie. »Sie sind dran.«
    Marnie blickte mit einem Anflug von Panik auf ihre leere Karteikarte hinunter. Sollten Kurse der Volkshochschule nicht stressfrei sein? Sie hatte sich nur auf den Rat des Bestattungsunternehmers hin angemeldet. Ausgerechnet. Dieser Kurs könne tröstlich sein, hatte er gesagt. Die Teilnehmer kämen dann mit ihrem Verlust besser zurecht. Beim Anblick der düsteren Mienen der anderen Frauen im Raum zweifelte Marnie irgendwie daran. Sie richtete sich auf und sagte: »Ich möchte gern ausgelassen werden.«
    »Ausgelassen werden?« Debbie blickte verwirrt drein. »Möchten Sie vielleicht, dass jemand anders für Sie vorliest?«
    »Nein.« Marnie hielt ihre Karteikarte hoch, um zu zeigen, dass sie leer war. »Ich habe wirklich nichts vorzulesen. Sie können mich einfach überspringen.«
    Debbie ließ nicht locker. »Aber Ihnen fällt doch bestimmt
irgendetwas
ein, was Ihnen den Tag versüßt?« Das peinliche Schweigen
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