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Entführung des Großfürsten

Entführung des Großfürsten

Titel: Entführung des Großfürsten
Autoren: B Akunin
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gewöhnlich wurde er halb neun zu Bett gebracht, aber diesmal übte Mademoiselle Nachsicht. Sie sagte, Seine Hoheit sei von der Reise noch zu aufgedreht und könne sowieso nicht einschlafen.
    Bei uns, am Grünen Hof, werden die Kinder nicht so streng erzogen wie am Blauen Hof die Söhne des Großfürsten Kirill. Dort hält man an den Familientraditionen des Zaren Nikolaus I. fest: Die Knaben bekommen eine militärische Erziehung, lernen schon mit sieben, in Reih und Glied zu stehen, werden mit kalten Wassergüssen abgehärtet und müssen in Feldbetten schlafen. Großfürst Georgi hingegen gilt in der kaiserlichen Familie als Liberaler. Er läßt seinen Söhnen eine nachsichtige, französisch geprägte Erziehung angedeihen und hat seine einzige Tochter Xenia Georgijewna, seinen Liebling, nach Meinung der Verwandten völlig verwöhnt.
    Großfürstin Xenia kam, Gott sei Dank, auch nicht aus ihrem Abteil, so daß sie den Auftritt ihres Bruders nicht sah. Sie hatte sich schon in Petersburg in ihrem Abteil eingeschlossen,mit einem Buch, und ich weiß auch, mit welchem, der »Kreutzersonate« von Graf Tolstoi. Ich habe es gelesen, um mitreden zu können, falls unter den Haushofmeistern einmal das Gespräch darauf kommt. Meines Erachtens ist das Buch todlangweilig und für ein neunzehnjähriges Fräulein, zumal eine Großfürstin, überhaupt nicht geeignet. In Petersburg hätte Großfürstin Jekaterina ihrer Tochter untersagt, einen solchen Unflat zu lesen. Der Roman mußte heimlich ins Reisegepäck geschmuggelt worden sein. Das konnte nur das Hoffräulein Baronesse Stroganowa besorgt haben, sonst niemand.
    Die beiden Seeleute kamen erst gegen Morgen zur Ruhe, wonach auch ich mir erlaubte, ein wenig zu schlummern. Die Reisevorbereitungen hatten mich doch recht erschöpft, und ich sah voraus, daß der erste Tag in Moskau nicht leicht werden würde.
     
    Die Schwierigkeiten übertrafen alle meine Befürchtungen.
    Es hatte sich so gefügt, daß ich mit meinen sechsundvierzig Jahren nie zuvor in der Weißsteinernen Stadt war, obwohl ich nicht wenig in der Welt herumgekommen bin. Das liegt daran, daß man in unserem Haus das Asiatische nicht ästimiert und als einzig würdigen Ort in ganz Rußland Petersburg ansieht, außerdem ist unser Verhältnis zum Moskauer Generalgouverneur Simeon Alexandrowitsch recht kühl, so daß wir keine Veranlassung haben, die alte Hauptstadt aufzusuchen. Selbst wenn wir auf die Krim fahren, zum Kap Mischor, nehmen wir für gewöhnlich einen Umweg über Minsk, damit Großfürst Georgi im Belowesher Wald Wisente schießen kann. Zur letzten Krönung, vor dreizehn Jahren, bin ich nicht mitgefahren, weil ich damals noch der Gehilfe desinzwischen verstorbenen Haushofmeisters Sachar Trofimowitsch war und ihn vertreten mußte.
    Während wir vom Bahnhof durch die Stadt fuhren, gewann ich einen ersten Eindruck von Moskau. Die Stadt war ja noch weniger zivilisiert, als ich gedacht hatte – kein Vergleich mit Petersburg. Enge, sinnlos verwinkelte Straßen, ärmliche Häuser, schmuddelige, provinzielle Menschen. Und das, obwohl sich die Stadt in Erwartung des allerhöchsten Besuchs aus Kräften um Verschönerung bemüht hatte: Die Fassaden waren gesäubert, die Dächer frisch gestrichen, auf der Twerskaja (der Hauptstraße – ein kümmerlicher Abklatsch des Newski-Prospekts) hingen überall die kaiserlichen Monogramme und doppelköpfigen Adler. Ich weiß nicht, womit ich Moskau vergleichen könnte. Es ist ein großes Dorf wie Saloniki, wo unsere »Mstislaw« im vergangenen Jahr angelegt hat. Ich sah in der Stadt keinen Springbrunnen, kein Haus, das höher als vier Etagen gewesen wäre, kein Reiterstandbild, nur den gebeugten Puschkin, und auch der schien, nach der Farbe der Bronze zu urteilen, noch nicht alt zu sein.
    Am Roten Platz, der mich ebenfalls ungemein enttäuschte, teilte sich unsere Kolonne. Ihren Hoheiten oblag es, sich vor der Ikone der Iberischen Gottesmutter und den Reliquien im Kreml zu verneigen, und ich fuhr mit den Dienern weiter, um unser zeitweiliges Moskauer Domizil herzurichten.
    Da die Hälfte unseres Hofstaates in Petersburg geblieben war, mußte ich mich mit einer sehr bescheidenen Anzahl von Bediensteten begnügen. Ich hatte nur acht Leute mitnehmen können: den Kammerdiener Seiner Hoheit, die Zofe der Großfürstin Xenia, den schon erwähnten Lakaien Lipps für den Großfürsten Pawel und Endlung, den Büfettmeister und seinen Gehilfen, einen Koch für die Herrschaften und
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