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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Teil 1
     
    Alap
    Als Alap beziehungsweise Jor wird die langsame, meditative Einleitung eines Raga bezeichnet. Der Alap hat noch keinen festgelegten Rhythmus. Erst der ihm entspringende Jor führt ihn behutsam ein und dient dazu, sich der Stimmung und den Besonderheiten eines Raga anzunähern. Noch setzen die begleitenden Instrumente nicht ein. Aufgabe des Alap ist es, die Zuhörer langsam und präzise an die verschiedenen Töne des Raga heranzuführen und ihm deren Beziehung zueinander zu offenbaren. Ein gut dargebotener Alap vereint den Musiker und seine Zuhörer in gemeinsamer Hingabe an den Geist des Raga und das Göttliche.
    Guruji
    Kapitel 1
    Selbstvergessen blickte Kalu hinauf in den Banyanbaum. Er bemerkte weder den Mann, der sich unter den schattenspendenden Ästen des Baumes zu einer Rast niedergelassen hatte, noch irgendein Geräusch. Als der Junge schließlich das vollkommene Blatt entdeckt hatte, machte er sich daran, auf den Baum zu klettern.
    Mit dem rechten Fuß klammerte er sich an Luftwurzeln und Ästen fest, während er sich mit den Zehen des linken am Baum vorantastete, wie ein Blinder mit seinem Stock. Der alte Banyan schien zu jeder Hilfestellung bereit. Die rauen Furchen seiner Rinde und die gebogenen Äste gaben dem Kind Halt bei seinem Aufstieg zu dem begehrten Blatt. Es war geschmeidig, frisch und grün wie eine reife Limone und hatte die Größe von Kalus Hand.
    Nachdem der Junge es sich zwischen den Ästen bequem gemacht hatte, pflückte er das Blatt und rollte es zu einer winzigen Flöte zusammen. Er drückte das Röhrchen mit den Zähnen zusammen und blies hinein. Ein Windstoß bemächtigte sich des hellen, süßen Tons und trug ihn hinunter in den Ort, wo er die schrille, aus den Läden quäkende Filmmusik und den Dreiklang der um den Luftraum wetteifernden Lastwagenhupen überwand, schließlich das Klingeln der Fahrräder durchdrang und sich aus dem Städtchen hinaus und hinunter zu den Felsen am Fluss schlängelte.
    Die Frauen, die dort rhythmisch die Wäsche schlugen, hielten einen Moment inne, während Kalu, in die Arme des alten Banyan geschmiegt, sein Spiel fortsetzte.
    Der Mann unter dem Baum entspannte seine Schultern und lehnte den Kopf an die schattige Rinde. Als der Junge aufgetaucht war, hatte er seine spontane Rast schon bereut. Er wollte ungestört sein und verhielt sich deshalb möglichst still. Er war
froh, als der Kleine auf den Baum kletterte, statt umherzulaufen. Von seinem Platz aus hatte der Mann eine gute Aussicht über die Felsen bis zur Narmada auf der einen und bis zum Ort auf der anderen Seite. Das Flötenspiel des Kindes trug ihn fort von der Hitze des Tages und brachte ihm die Frische des Morgens zurück.
    Der Junge, dessen Aufmerksamkeit der Mann so bemüht auswich, war dünn wie ein Schilfrohr. Er sah nicht älter aus als zehn, war wahrscheinlich noch ein paar Jahre jünger. Sein staubiges Gesicht wirkte welk und erinnerte an eine überreife Chiku mit ihrer faltigen Schale, die für eine größere Frucht gemacht schien. Das Kind war eigentlich noch zu klein, um die ungewöhnlichen und kräftigen Töne hervorzubringen, die aus dem Baum erklangen.
    Kalu blieb noch einige Minuten sitzen. Die kühlenden Blätter des Banyan boten ihm Schutz vor der Mittagssonne. Sein Magen knurrte bei dem Gedanken an etwas Essbares, und er wusste, wenn er nicht hungern wollte, musste er hinuntersteigen und sich ein paar Bissen erbetteln. Seine letzte Mahlzeit hatte er bekommen, bevor er sich diese schlimme Wunde am Fuß zugezogen hatte. Und das lag schon eine ganze Weile zurück.
    Es war in einer jener mondlosen Nächte geschehen, die Kalu so verabscheute, weil er dann stets Alpträume hatte, aus denen er verängstigt und am ganzen Leib zitternd erwachte, obwohl er sich an ihren Inhalt nicht erinnern konnte. Aber die Furcht, die sich in seinem mageren Körper hielt, war so groß, dass er sich fast erbrechen musste. In der bewussten Nacht hatte er an seinem Stammplatz hinter dem Pan-Bidi-Lädchen geschlafen, der ihm die Nähe von Menschen und zugleich ein sicheres Versteck bot. 
    Er lauschte den Filmhits, die aus den Lautsprechern vor dem winzigen Laden gellten, dem Brummen des Generators und den lauten, etwas wirren Diskussionen der Männer, die dort ihre Bidi oder Zigaretten rauchten oder Pan kauten. Sie sprachen über Politik, Filme und Frauen, nur Religion war tabu.
    Der Lärm hielt in der Regel die fast bibergroßen Ratten fern, die mitunter vom Fluss heraufkamen und mit
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