Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
Vom Netzwerk:
den Weg zum Banyanbaum. Hier konnte er ungestört sitzen und auf einem Blatt Flöte spielen. Zwar konnte er von seinem Platz auf dem Baum den Ort nicht sehen, aber er hatte einen schönen Ausblick über die felsigen, von Bäumen und Feldern gesäumten Ufer der Narmada. Hier und da ragte die weiße Kuppel eines Tempels auf, jede mit einem farbigen Wimpel geschmückt. Kalu hatte gehört, an diesem Teil des Flusses stünde pro Meile ein Tempel. Wenn er genau hinschaute, konnte er all die Pfade, künstlichen Treppen und durchbrochenen Klippen erkennen, die einen Weg hinunter zum Fluss ermöglichten, der in weit ausholenden Schlaufen dahinströmte. Sogar seinen Freund Bal, den Hütejungen, der seine Büffel zur Tränke führte, konnte Kalu sehen. In der Ferne arbeiteten die Bauern auf den Feldern, braunen Fleckchen Erde, die sich durch üppiges Grün zogen.
    Als die Frauen mit ihren Körben voll nasser, sauberer Wäsche auf den Köpfen nach Hause gingen, beschloss Kalu, den Baum zu verlassen. Vorsichtig begann er den Abstieg, streichelte die schrundige Rinde und freute sich an der Rauheit der knorrigen Äste. Bald würde er nicht einmal mehr seinen alten Banyan hinaufklettern können.
    Der Mann am Fuß des Baumes schlug die Augen auf, als Kalu sich wieder auf die Erde hinunterließ. »Spielst du nur für die
Götter da oben, oder kannst du auch auf der Erde spielen?«, sprach er ihn an.
    Überrascht hielt Kalu sich am Stamm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Mann, der auf einem baumwollnen Tuch saß, wirkte groß. Er trug eine traditionelle Kurta statt eines westlichen Oberhemds, und seine Sandalen waren neu und robust, wenn auch der Koffer, den er bei sich hatte, ziemlich mitgenommen wirkte. Mit etwas Glück würde er Kalu vielleicht eine Mahlzeit spendieren.
    »Wenn Ihnen mein Spiel gefallen hat, Sir, geben Sie mir doch ein paar Paise … Ich hab solchen Hunger.« Kalus Worte machten die letzten Töne seiner Melodie zunichte.
    Der Ausdruck des Mannes wurde hart. »Du bettelst?«
    »Mein Fuß.« Kalu wedelte mit seinem Fuß und hoffte, der Geruch würde den Mann zu einer hastigen Spende ermuntern. »Ich kann nicht mehr arbeiten, Sir … nur ein paar Paise.«
    Der Mann musterte den stark entzündeten Fuß. Eitrige Schwären bedeckten fast die ganze Ferse und einen Teil des Knöchels. Offensichtlich bestand das Problem nicht erst seit gestern. Mühsam hielt der Junge das Gleichgewicht mit den Zehen und schwankte dabei wie ein Papierdrachen im Wind. Der Mann hatte seit langem keine derartige Entzündung zu Gesicht bekommen. Als er dem Jungen in die Augen sah, kam dessen Körper zur Ruhe. Als Kalu etwas sagen wollte, lächelte der Mann. »Hör zu, Beta. Wie wär's, wenn ich dich behandle, statt dir Geld zu geben?«
    Kalu wich einen Schritt zurück. »Ich brauche keine Behandlung.«
    »Dein Fuß schon.«
    »Wieso meinen Sie, Sie könnten ihn wieder heil machen, wenn bis jetzt nichts geholfen hat?« Behutsam, um nicht an die Wunde zu kommen, schlang Kalu seinen gesunden Fuß um seinen kranken. Der Mann sollte ihm bloß keine Versprechungen machen, die er nicht halten konnte.
    »Ich bin ein Vaid, ein Heiler. Anderen Menschen zu helfen ist mein Beruf. Versprechen kann ich dir natürlich nichts. Zuerst müsste ich mir deinen Fuß mal ansehen. Viel hängt auch davon ab, wie genau du meine Anweisungen befolgen würdest. Und zwar alle. Krankheiten können viele Formen annehmen. Ihr äußeres Erscheinungsbild ist oft das am wenigsten Komplizierte daran.«
    Während der Mann sprach, musterte Kalu den abgewetzten Koffer. Malti, Ganga Bas Dienstmädchen, hatte ihm einmal erklärt, was ein Vaid war. Anscheinend hatte so einer Ganga Bas Schwester geheilt, als sie Krebs hatte. Dabei hatte sie nicht einmal gemerkt, dass sie Krebs hatte. Malti hatte gehört, wie Ganga Ba ihren Freundinnen erzählte, dass die Vaids viele Dinge wussten, die die meisten Menschen in Indien vergessen hatten. Zumindest schnitten sie die Leute nicht auf oder sägten an ihren Knochen herum. Dieser Mann hier hatte auch keine Fahne wie der Gemeinde-Dakter. In seinem Gesicht war etwas, das Kalus Vertrauen weckte, obwohl er Fremden gegenüber sonst äußerst misstrauisch war. Er überlegte, ob er den Mann schon einmal irgendwo gesehen hatte.
    Kalu lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und hielt den Fuß so, dass der Gestank nicht mehr in die Richtung des Vaid wehte. »Ich habe kein Geld. Ich kann Ihnen nichts zahlen.« Kalus Stimme war rein und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher