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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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ihren scharfen Zähnen jeden Draht durchbeißen konnten. Bei dem Gedanken, sie könnten sich über seine Finger oder Zehen hermachen, wenn er schlief, packte Kalu blankes Entsetzen. Aber hinter dem Lädchen fühlte er sich sicher.
    Der kleine Vorplatz bestand aus geborstenem, mit rotem Betelsaft bespritztem Beton. Jaya-shri Ben, die Frau des Panwalla, kreischte jeden Morgen wie ein grüner Sittich auf ihren Mann Ravi ein, wenn sie den Boden sah. Für Kalu war ihr Geschrei ein vertrautes, alltägliches Ritual. Es beruhigte ihn, und wenn er Glück hatte, gab Jaya-shri Ben ihm ein paar Paise dafür, dass er den Boden säuberte, bevor er seine Botengänge erledigte. Je nachdem, wie sie gelaunt war.
    Kalu schlief nie sehr tief, aber in jener Nacht war er sehr müde gewesen. Er hatte den ganzen Tag Waren für den Vorratsladen im Basar ausgeliefert. Die Arbeit war schwer, vor allem wenn er die Säcke zu den am Hang gelegenen Häusern der Reichen hinaufschleppen musste. Am Abend war er wie immer mit einem kleinen, scharfen Stein in der Hand eingeschlafen.
    Später, am frühen Morgen, als es noch kühl war, hatte er einen beißenden Schmerz an seinem Fuß verspürt. Wie ein glühendes Messer hatte es sich angefühlt. Kalu sprang auf, ließ den Stein fallen und stürzte gleich wieder zu Boden, weil sein Fuß ihn nicht trug. Doch weit und breit war kein Angreifer zu entdecken: kein Mensch, keine Schlange, kein Skorpion. Im schwachen Licht des Pan-Bidi-Lädchens und der Morgendämmerung sah er, dass sein Knöchel rot angeschwollen war und blutete. Bis zum Mittag war seine Ferse mit eitrigen Schwären bedeckt, und das Gelenk fühlte sich steif an, so als wären die Knochen miteinander verschmolzen.
    Bis dahin hatte Kalu sich seinen Lebensunterhalt mit Feldarbeit und Botengängen verdient. Doch nun konnte er nicht
mehr schnell laufen, ja nicht einmal mehr gehen, ohne zu hinken, so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu betteln.
    Die Wunden eiterten immer weiter. Nichts half, weder ständiges Waschen noch die Paste, die der Panwalla ihm gegeben hatte. Nach einigen Tagen gewöhnte Kalu sich an den süßlichen, fauligen Geruch, der ihn wie ein billiges Parfüm umwehte. Andere allerdings waren nicht so unempfindlich. Einst hatten die Nachbarn gelächelt, wenn sie Kalu munter ausschreiten sahen oder ihn pfeifen hörten, während er von Auftrag zu Auftrag rannte. Jetzt wandten sie sich ab, pressten ihre Taschentücher an die Nase und scheuchten ihn, mit den Händen wedelnd, aus ihrer Riechweite.
    Der Gestank führte auch Jaya-shri Ben zu Kalus Unterschlupf hinter ihrem Laden. »Mach, dass du wegkommst! Du vertreibst mir ja die ganze Kundschaft, du Schmutzfink! Wasch dich! Weißt du denn überhaupt nicht, was sich gehört?«, keifte sie, eine Hand resolut in die Hüfte gestemmt, während sie ihn mit der anderen davonscheuchte.
    »Geh gefälligst mal zum Gemeindearzt, Kalu«, zeterte Ganga Ba, eine robuste, ältere Dame mit scharfen Augen und noch schärferer Zunge.
    Seit seinem ersten Tag in Hastinapore trug Kalu Ganga Bas Briefe zur Post. Damals vor zwei Jahren war er nach langer Wanderschaft völlig verstört und entkräftet dort angekommen. Sein Hals hatte so geschmerzt, dass er Ganga Ba um etwas Milch bat. Dafür hatte sie ihn zur Post geschickt. Und weil er offenbar sein Gedächtnis verloren hatte und sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern konnte, hatte Ganga Ba ihn wegen seiner schwarzen Haare und sonnenverbrannten Haut Kalu getauft. Es sei entwürdigend, jemanden einfach »Junge« zu rufen, hatte sie erklärt. Zumindest einen Namen habe doch jeder verdient. Außerdem, wie sollte er sonst wissen, welchen Jungen sie meine? 
    Obwohl Kalu der alten Dame seinen Namen verdankte, weigerte er sich strikt, den Gemeindearzt aufzusuchen. Er hatte gese
hen, was der »Dakter« bei anderen Patienten angerichtet hatte. Jasumati, die Frau des Süßwarenhändlers, war ziemlich knauserig und hatte ihre Schwiegermutter zu ihm gebracht, als die Zehen der alten Dame schwarz geworden waren. Doch statt ihre Zehen zu heilen, hatte der Dakter ihr den ganzen Fuß abgesägt! Außerdem wusste jeder, dass der Mann mehr trank, als dass er praktizierte. Und Kalu war häufig Zeuge geworden, wie Alkohol auf die Menschen wirkte. Manche gebärdeten sich wie Komiker in einem Film. Anderen musste man aus dem Weg gehen, um keine Prügel zu beziehen. Diesem Trunkenbold von Dakter würde er seinen Fuß jedenfalls nicht anvertrauen.
    So machte sich Kalu auf
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