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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Banyanbaum auf dem Blatt gespielt hatte, und fing leise an zu summen. Er war schon oft hier gewesen. Für Ganga Ba arbeitete er am liebsten, denn sie bezahlte ihn anständig, und er durfte sich Zeit lassen. Sie hätte ihn niemals geschlagen, allerdings hatte sie eine scharfe Zunge. Sie schimpfte, wenn er
zu spät kam, und gab mit Vorliebe Malti die Schuld an jedem Missgeschick. Malti hob häufig Essenreste für ihn auf, so dass er mit seinem Verdienst länger auskam.
    »Ganga Masi, he, Masi!«, rief er, als er sah, dass niemand im Raum war. Ganga Ba war so lange wie möglich oben in ihrem Zimmer geblieben und hatte missmutig Dinge von einer Ecke in die andere geräumt, denn sie hatte dort keinen Fernseher, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie war gereizt. Der Ruhm, der dem Vaid vorauseilte, gab ihm noch lange nicht das Recht, ihr Haus einfach als Hospital zu benutzen. Sie hatte überlegt, ob sie die Behandlung des Jungen in den Garten verlegen sollte, damit ihr Haus nicht verunreinigt wurde, aber dann war ihr klar geworden, dass dies keineswegs einen Vorteil für sie bedeuten würde. Jetzt beugte Ganga Ba sich über das Treppengeländer, und ihr Blick fiel auf die rote Schachtel mit Konfekt, die Kalu in seinen schmutzverkrusteten Händen hielt.
    »Für Sie, Masi, und für Malti«, erklärte Kalu und wischte sich erst die eine, dann die andere Hand an seinen verdreckten Shorts ab, bevor er ihr die Schachtel entgegenstreckte. »Sie können auch die Schleife behalten.« Er war der Einzige, der sie noch Masi – Tante – nannte, statt Ba – Großmutter. Geistig, wenn vielleicht auch nicht körperlich, passte Tante ja auch viel besser zu ihr, wie sie fand.
    Die Anrede erinnerte sie an ihre eigenen Tanten, die starke, aktive Frauen und bei den Männern der Familie gefürchtet gewesen waren. Die Anrede »Großmutter« hingegen gab ihr das Gefühl, alt und gebrechlich zu sein. Sie richtete sich auf.
    »Was soll die Verschwendung, Lausejunge? Spar lieber dein Geld«, knurrte sie, während sie das Band löste und die Schachtel öffnete. Es war schon eine Weile her, seit jemand ihr etwas geschenkt hatte. Die meisten Menschen wollten etwas von ihr. Vor allem die Familie.
    »Malti, bring das Konfekt in die Küche und leg es in eine Metalldose. Sonst fressen es noch die Ratten. Und hol ein Handtuch,
auf das der Junge sich setzen kann, und dann zündest du ein paar Räucherstäbchen an. Husch, husch, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Ganga Ba ließ sich auf den grünen Diwan fallen, ohne auf Maltis gerunzelte Brauen zu achten.
    »Du bewegst dich ja neuerdings in bester Gesellschaft. Kein Geringerer als der Vaid hat dich als seinen Gast in mein Haus eingeladen. Was riecht da so? Malti, die Agarbati, bitte.« Sie schnaubte missbilligend und erinnerte Kalu dabei an Indu Bens Kuh, die sich ähnlich verhielt, wenn Kinder versuchten, ihre Milch zu stehlen.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er und reagierte damit eher auf Ganga Bas Ton als auf ihre Worte. Er hatte nicht genau zugehört und sich mehr auf das konzentriert, was womöglich auf ihn zukam. Er sah sich nach einem geeigneten Fluchtweg um. Für den Fall, dass der Vaid etwas von Fußabnehmen sagte. Das würde er niemals gestatten. Ohne seinen Fuß könnte er nie mehr arbeiten und seinen Lebensunterhalt verdienen.
    Kalu wusste nicht, wo er sich hinsetzen und was er sagen sollte. Also blieb er neben dem Tisch stehen, bis Malti mit einem alten, zerschlissenen Tuch zurückkam, auf dem er sich niederließ. Als er die Hand auf den blanken Granitboden legte, spürte er eine saubere, kalte Härte, die sich so sehr von der warmen, weichen Erde unterschied. Er verbarg seinen Fuß in den Falten des Stoffes, so dass er von Ganga Ba wegzeigte und sie nicht belästigte.
    »He, Bhagwan, wohin soll das noch führen? – ein Betteljunge und ein berühmter Vaid in einem Raum. Aber warum er sich ausgerechnet mein Haus ausgesucht hat, will mir nicht in den Kopf. – Malti! Wasser! Der Bengel weiß gar nicht, was für ein Glück er hat.«
    Aber Kalu fühlte sich keineswegs vom Glück begünstigt. Er kam sich sehr klein vor. Der Duft der Räucherstäbchen schien die üblen Ausdünstungen von seinem Fuß noch zu betonen. Sein Einkauf und der Geschmack des süßen, reichhaltigen Kon
fekts hatten ihn so in Anspruch genommen, dass er den Vaid völlig vergessen hatte. Es hatte ihm genügt, dass der Mann Ganga Ba kannte und ihm zehn Rupien gegeben hatte. In Kalus Magen rumorte es.
    Malti trug mehrere
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