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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Ich erinnere mich in ungeordneter Reihenfolge an:
     

die schimmernde Innenseite eines Handgelenks;

aufsteigenden Dampf aus einem Spülbecken, in das lachend eine heiße Bratpfanne geworfen wird;

Spermaflatschen, die um ein Abflussloch in einem hohen Haus kreisen und dann ganz hinuntergespült werden;

einen widersinnig stromaufwärts brausenden Fluss, dessen Wogen und Wellen von den Strahlen mehrerer Taschenlampen verfolgt und erleuchtet werden;

einen anderen Fluss, breit und grau, bei dem ein steifer Wind die Wasserfläche aufwühlt und die Strömung verbirgt;

längst erkaltetes Badewasser hinter einer verschlossenen Tür.
    Dieses letzte Bild habe ich nicht wirklich gesehen, aber am Ende ist das, was man in Erinnerung behält, nicht immer dasselbe wie das, was man beobachtet hat.
    Wir leben in der Zeit – sie trägt und sie prägt uns –, aber ich hatte immer das Gefühl, sie nicht recht zu verstehen. Und damit meine ich nicht die Theorien, dass sie bisweilen kehrtmacht und rückwärts läuft oder womöglich anderswo in einer Parallelausgabe existiert. Nein,ich meine die ganz gewöhnliche, alltägliche Zeit, die, wie uns sämtliche Uhren versichern, regelmäßig vergeht: tick-tack, klick-klack. Was ist glaubwürdiger als ein Sekundenzeiger? Und doch lehren uns schon die kleinsten Freuden und Schmerzen, wie geschmeidig die Zeit ist. Manche Gefühle lassen sie schneller, andere langsamer vergehen; zuweilen scheint sie abhandenzukommen – bis sie dann schließlich wirklich abhandenkommt und niemals wiederkehrt.
    Ich habe kein besonderes Interesse an meiner Schulzeit und denke nicht nostalgisch daran zurück. Doch in der Schule fing alles an, darum muss ich kurz auf einige Vorfälle eingehen, die sich zu Anekdoten ausweiteten, zu annähernden Erinnerungen, die dann die Zeit zu Gewissheiten verzerrte. Wenn ich mir der tatsächlichen Ereignisse nicht mehr sicher sein kann, so kann ich wenigstens getreu wiedergeben, welche Eindrücke sie hinterlassen haben. Ich werde mein Bestes tun.
    Wir waren ein Dreigespann, und dann kam er als Vierter dazu. Wir hatten nicht mit einer Erweiterung unseres kleinen Kreises gerechnet: Cliquen und Paarungen hatten sich vor langer Zeit gebildet, und in Gedanken stellten wir uns bereits vor, wie wir der Schule ins Leben entflohen. Er hieß Adrian Finn, ein großer, schüchterner Junge, der anfangs kaum aufschaute und seine Ansichten für sich behielt. Die ersten ein, zwei Tage beachteten wir ihn nicht weiter: An unserer Schule gab es keine Willkommenszeremonie, geschweige denn das Gegenteil, die rituelle Bewährungsprobe. Wir nahmen einfach zur Kenntnis, dass er da war, und warteten ab.
    Die Lehrer zeigten mehr Interesse an ihm als wir. Siemussten herausfinden, wie es um seine Intelligenz und Disziplin stand, abschätzen, wie gut seine Vorbildung war und ob sie ihn zum »Stipendiumskandidaten« aufbauen könnten. In jenem Herbst hatten wir am dritten Tag Geschichte bei Old Joe Hunt, der sich in seinem dreiteiligen Anzug verkniffen-leutselig gab und dessen Herrschaftssystem darauf beruhte, dass er für ausreichende, aber nicht ausufernde Langeweile sorgte.
    »Nun, Sie werden sich erinnern, dass ich Sie um vorbereitende Lektüre zur Herrschaft Heinrichs des Achten bat.« Colin, Alex und ich warfen uns kurze Blicke zu und hofften, die Frage werde nicht wie die Fliege beim Angeln auf einem unserer Köpfe landen. »Wer möchte uns mit einer Charakterisierung dieser Zeit dienen?« Bei unseren abgewandten Blicken konnte er sich sein Teil denken. »Also dann vielleicht Marshall. Wie würden Sie die Herrschaft Heinrichs des Achten beschreiben?«
    Unsere Erleichterung war größer als unsere Neugier, denn Marshall war ein vorsichtiger Nichtwisser, dem der Einfallsreichtum wahrer Ignoranz fehlte. Er forschte erst nach möglicherweise in der Frage verborgenen Fußangeln, bevor er schließlich eine Antwort fand.
    »Es herrschte Unruhe, Sir.«
    Ein Ausbruch kaum verhohlenen Grinsens; selbst Hunt lächelte beinahe.
    »Könnten Sie uns das wohl näher erläutern?«
    Marshall nickte langsam und verständnisinnig, überlegte noch eine Weile und beschloss, jede Vorsicht in den Wind zu schlagen. »Ich würde sagen, es herrschte große Unruhe, Sir.«
    »Dann eben Finn. Kennen Sie sich in diesem Zeitalter aus?«
    Der Neue saß eine Reihe vor mir auf der linken Seite. Erhatte keine erkennbare Reaktion auf Marshalls Schwachsinnigkeiten gezeigt.
    »Eigentlich nicht, Sir, tut mir leid.
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