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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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von Ihnen sieht mich je wieder.«
    Er nickte. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
    Wer ich bin? »Ja, natürlich. Ich heiße Tony Webster. Ich war vor langer Zeit mit Adrians Vater befreundet. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Ich habe auch Adrians Mutter gekannt, Veronica. Sehr gut sogar. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Aber in den letzten Wochen haben wir uns ziemlich oft gesehen. Nein, in den letzten Monaten, sollte ich sagen.«
    »Wochen und Monaten?«
    »Ja«, sagte ich. »Aber Veronica werde ich auch nicht wiedersehen. Sie will nichts mehr von mir wissen.« Ich gab mir Mühe, dass das sachlich und nicht jammervoll klang.
    Er schaute mich an. »Sie werden verstehen, dass wir nicht über die Vorgeschichte unserer Klienten sprechen dürfen. Das unterliegt der Vertraulichkeit.«
    »Selbstverständlich.«
    »Aber was Sie eben gesagt haben, ergibt überhaupt keinen Sinn.«
    Ich überlegte kurz. »Ah – Veronica – ja, tut mir leid. Ich erinnere mich, dass er – Adrian – sie Mary nannte. Vermutlich nennt sie sich ihm gegenüber so. Das ist ihr zweiter Name. Aber ich kannte sie – kenne sie – als Veronica.«
    Über seine Schulter hinweg konnte ich sehen, wie die fünf ängstlich beisammen standen, immer noch ohne zu trinken, und uns beobachteten. Es war mir peinlich, dass meine Gegenwart sie beunruhigte.

    »Wenn Sie mit seinem Vater befreundet waren …«
    »Und mit seiner Mutter.«
    »Dann haben Sie wohl etwas nicht richtig verstanden.« Immerhin drückte er es anders aus als andere.
    »Nein?«
    »Mary ist nicht seine Mutter. Mary ist seine Schwester. Adrians Mutter ist vor einem halben Jahr gestorben. Es hat ihn sehr mitgenommen. Darum hat er in letzter Zeit … Probleme.«
    Automatisch aß ich ein Kartoffelstäbchen. Dann noch eins. Sie waren nicht genügend gesalzen. Das ist der Nachteil bei dicken Pommes. Es ist zu viel Kartoffel drin. Dünne Pommes haben nicht nur mehr knuspriges Äußeres, auch das Salz ist besser verteilt.
    Ich konnte nichts anderes tun, als Terry meine Hand hinzuhalten und mein Versprechen zu wiederholen. »Und ich hoffe, er fängt sich wieder. Ich bin sicher, Sie sorgen sehr gut für ihn. Sie kommen offenbar gut zurecht, alle fünf.«
    Er stand auf. »Nun ja, wir tun, was wir können, aber uns werden fast jedes Jahr die Mittel gekürzt.«
    »Alles Gute für Sie alle«, sagte ich.
    »Danke.«
    Beim Bezahlen gab ich doppelt so viel Trinkgeld wie sonst. So war ich wenigstens zu etwas nütze.
    Später dann, zu Hause, dachte ich noch einmal über alles nach, und nach einiger Zeit verstand ich. Ich kapierte. Warum Mrs Ford überhaupt Adrians Tagebuch hatte. Warum sie geschrieben hatte: » PS : Es mag komisch klingen, aber ich glaube, die letzten Monate seines Lebens waren glücklich.« Was die Betreuerin gemeint hatte, als sie sagte »Vor allem jetzt«. Sogar was Veronica mit »Blutgeld« gemeint hatte. Und schließlich wovon Adrian auf der Seite gesprochen hatte, die ich sehen durfte. »Wie ließe sich demnach eine Akkumulation darstellen, in der die Größen b, a 1 , a 2 , s, v enthalten sind?« Und dann mehrere Formeln, die mögliche Akkumulationen darstellten. Jetzt war alles klar. Das Erste a war Adrian und das andere war ich, Anthony – so hatte er mich genannt, wenn er mich zur Ernsthaftigkeit ermahnen wollte. Und b stand für »Baby«. Ein Baby, das eine Mutter – »die Mutter« – in gefährlich hohem Alter zur Welt gebracht hatte. Was ein Kind mit einem Schaden zur Folge hatte. Das jetzt ein vierzigjähriger Mann war, der tiefes Leid trug. Und seine Schwester Mary nannte. Ich betrachtete die Verantwortungskette. Ich sah meinen Anfangsbuchstaben darin. Ich erinnerte mich, dass ich Adrian in meinem hässlichen Brief aufgefordert hatte, Veronicas Mutter zu befragen. Ich ließ die Worte noch einmal abspulen, die mich bis in alle Zeiten verfolgen würden. Genau wie Adrians unvollendeter Satz. »Zum Beispiel, wenn Tony …« Ich wusste, ich konnte jetzt nichts mehr ändern oder in Ordnung bringen.
    Du kommst ans Ende des Lebens – nein, nicht des Lebens an sich, sondern von etwas anderem: das Ende jeder Wahrscheinlichkeit einer Änderung in diesem Leben. Du darfst lange innehalten, lange genug, um die Frage zu stellen: Was habe ich sonst noch falsch gemacht? Ich dachte an eine Gruppe junger Leute auf dem Trafalgar Square. Ich dachte an eine junge Frau, die einmal im Leben tanzte. Ich dachte an das, was ich jetzt nicht wissen und verstehen konnte, an alles, was
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