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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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sich möglichst mit jedermann gut stellte, für den Verzückung und Verzweiflung bald bloße Worte waren, die er einst in Romanen gelesen hatte? Ein Mensch, dessen Selbstvorwürfe nie wirklich schmerzhaft waren? Ja, über all das musste ich nachdenken, während ich eine besondere Art der Reue erfuhr: den Schmerz, der am Ende einem Menschen zugefügt wird, der immer zu wissen glaubte, wie man Schmerzen vermeidet – und der ihm aus ebendiesem Grund zugefügt wird.
    »Raus!«, hatte Veronica befohlen, nachdem sie mit zwanzig Meilen die Stunde auf den Bordstein gefahren war. Jetzt ließ ich das Wort in seinem weiteren Sinn widerhallen: Raus aus meinem Leben, ich wollte dich sowieso nie wieder darin haben. Ich hätte mich nie auf ein Wiedersehen, erst recht nicht auf eine Verabredung zum Essen einlassen und dir schon gar nicht meinen Sohn zeigen sollen. Raus, raus!
    Wenn ich ihre Adresse gehabt hätte, dann hätte ich ihr einen richtigen Brief geschrieben. In die Betreffzeilemeiner E-Mail schrieb ich »Entschuldigung«, änderte es dann zu » ENTSCHULDIGUNG «, aber das wirkte zu schrill, darum änderte ich es wieder zurück. Ich konnte nur offen und ehrlich sein.
    Liebe Veronica,
     
    ich weiß, wahrscheinlich bin ich der letzte Mensch, von dem du etwas hören willst, aber ich hoffe, du liest diese Nachricht bis zum Ende durch. Ich erwarte keine Antwort von dir. Aber ich habe vieles noch einmal neu durchdacht, und ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich erwarte nicht, dass du dann eine bessere Meinung von mir hast – aber schlechter könnte sie ja kaum werden. Der Brief von mir damals war unverzeihlich. Ich kann dazu nur sagen, dass meine schändlichen Äußerungen dem Augenblick entsprungen waren. Ich war aufrichtig entsetzt, als ich sie nach so langen Jahren wieder las.
    Ich erwarte nicht, dass du mir Adrians Tagebuch aushändigst. Wenn du es verbrannt hast, ist die Sache damit erledigt. Wenn nicht, dann gehört es, da es von dem Vater deines Sohnes geschrieben wurde, eindeutig dir. Es ist mir rätselhaft, warum deine Mutter es überhaupt mir hinterlassen hat, aber das spielt jetzt keine Rolle.
    Es tut mir leid, dass ich dir so viel Ungemach bereitet habe. Du wolltest mir etwas zeigen, und ich war zu dämlich, um es zu verstehen. Ich möchte dir und deinem Sohn ein friedliches Leben wünschen, soweit das unter den gegebenen Umständen möglich ist. Und wenn ich irgendwann etwas für dich oder ihn tun kann, dann zögere bitte nicht, dich bei mir zu melden.
    Dein Tony

    Etwas Besseres brachte ich nicht zustande. Es war nicht so gut, wie ich gewollt hätte, aber zumindest war jedes Wort ehrlich gemeint. Ich hatte keine versteckten Absichten. Ich hoffte nicht insgeheim, es würde irgendwas dabei herausspringen. Nicht ein Tagebuch, nicht Veronicas gute Meinung, nicht einmal eine Annahme meiner Entschuldigung.
    Ich weiß nicht, ob ich mich besser oder schlechter fühlte, nachdem ich die Mail abgeschickt hatte. Ich fühlte überhaupt nicht viel. Ich war erschöpft, innerlich leer. Ich hatte kein Verlangen, Margaret zu erzählen, was passiert war. Ich dachte häufiger an Susie und daran, wie glücklich sich alle Eltern schätzen können, wenn ein Kind mit vier Gliedmaßen, einem normalen Gehirn und dem emotionalen Rüstzeug zur Welt kommt, das dem Kind, dem Mädchen, der Frau erlaubt, jedwedes Leben zu führen. Mögest du gewöhnlich sein, wie es ein Dichter einst einem neugeborenen Kind wünschte.
    Mein Leben ging weiter. Ich gab Bücherempfehlungen für die Kranken, die Genesenden, die Sterbenden. Ich las selbst das eine oder andere Buch. Ich stellte meinen Abfall zum Recyceln raus. Ich schrieb Mr Gunnell, er möge die Tagebuchangelegenheit nicht weiterverfolgen. Eines Spätnachmittags fuhr ich aus einer Laune heraus über den nördlichen Ring, kaufte ein paar Sachen ein und aß im William IV zu Abend. Ich wurde gefragt, ob ich im Urlaub gewesen sei. Im Laden sagte ich Ja, in der Kneipe Nein. Die Antworten schienen mir kaum von Belang zu sein. Überhaupt war nicht viel von Belang. Ich dachte an alles, was mir im Laufe der Jahre geschehen war, und wie wenig ich selbst bewirkt hatte.

    Zuerst hielt ich es für eine alte E-Mail, die aus Versehen noch einmal abgeschickt worden war. Aber mein Betreff stand noch da: »Entschuldigung«. Meine Nachricht darunter war nicht gelöscht worden. Ihre Antwort lautete: »Du kapierst immer noch nichts. Hast du ja nie und wirst du auch nie. Also gib’s auf.«
    Ich ließ das in meiner
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