Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Zeit nicht. Wie Margaret gesagt hatte, ich war auf mich selbst gestellt – und so sollte es auch sein. Nicht zuletzt deshalb, weil ich weite Strecken meiner Vergangenheit neu bewerten musste, und nur die Reue leistete mir dabei Gesellschaft. Und wenn ich Veronicas Leben und Charakter überdacht hatte, musste ichin meine eigene Vergangenheit zurückgehen und mich mit Adrian auseinandersetzen. Meinem philosophischen Freund, der sich das Leben angeschaut und befunden hatte, jedes verantwortungsvolle, denkende Individuum sollte das Recht haben, dieses ungebetene Geschenk zurückzuweisen – und dessen noble Geste mit jedem vergehenden Jahrzehnt erneut deutlich machte, aus welchen Kompromissen und welcher Nichtigkeit die meisten Leben bestehen. »Die meisten Leben«: mein Leben.
    Dieses Bild von ihm – dieser lebende, tote Vorwurf an mich und den Rest meines Daseins – war nun also auf den Kopf gestellt. »Erstklassiges Examen, erstklassiger Selbstmord«, da waren Alex und ich uns einig gewesen. Was für einen Adrian hatte ich nun stattdessen? Einen, der seine Freundin geschwängert hatte, sich den Folgen nicht stellen konnte und »den leichten Ausweg wählte«, wie man damals sagte. Nicht dass das etwa leicht sein kann, dieses letzte Behaupten der Individualität gegen die erdrückende Allgemeinheit. Doch nun musste ich Adrian in einem neuen Licht sehen, aus dem Camus zitierenden Geschenkezurückweiser, für den Selbstmord die einzig wahre philosophische Frage war, etwas anderes machen … aber was? Nur eine andere Ausgabe von Robson, der »nicht gerade ein Eros-und-Thanatos-Kandidat« war, wie Alex es ausgedrückt hatte, als dieser bis dahin unauffällige Schüler der Oberstufe Naturwissenschaft sich mit einem knappen »Tut mir leid, Mama« von dieser Welt verabschiedet hatte.
    Damals hatten wir vier darüber spekuliert, was für ein Mensch Robsons Freundin gewesen sein mochte – von spröder Jungfrau bis tripperverseuchter Hure. An das Kind und an die Zukunft hatte keiner von uns gedacht. Jetzt überlegte ich zum ersten Mal, was wohl aus RobsonsFreundin und dem gemeinsamen Kind geworden war. Die Mutter wäre jetzt etwa in meinem Alter und mit großer Wahrscheinlichkeit noch am Leben, während das Kind auf die fünfzig zugehen würde. Ob es immer noch glaubte, dass »Dad« bei einem Unfall gestorben war? Vielleicht war es zur Adoption freigegeben worden und mit dem Gefühl aufgewachsen, es sei unerwünscht. Adoptivkinder haben heutzutage aber das Recht, ihre leibliche Mutter ausfindig zu machen. Ich stellte mir diese Suche vor und auch das unbehagliche, bittere Wiedersehen, zu dem sie geführt haben mochte. Ich spürte den Wunsch, mich selbst nach dieser langen Zeit bei Robsons Freundin dafür zu entschuldigen, dass wir so lose Reden über sie geführt hatten, ohne ihren Schmerz und ihre Schmach zu bedenken. Am liebsten hätte ich Kontakt zu ihr aufgenommen und sie gebeten, uns unsere längst verjährte Schuld zu vergeben – auch wenn sie damals gar nichts von dieser gewusst hatte.
    Aber das Nachdenken über Robson und Robsons Freundin war nur ein Ausweichen vor der neuen Wahrheit über Adrian. Robson war vielleicht fünfzehn, sechzehn gewesen. Wohnte noch zu Hause und bei Eltern, die ganz gewiss nicht gerade liberal eingestellt waren. Und wenn seine Freundin unter sechzehn gewesen war, gab es womöglich auch eine Anklage wegen Unzucht mit Minderjährigen. Also war das eigentlich nicht zu vergleichen. Adrian war erwachsen, wohnte nicht mehr zu Hause und war weitaus intelligenter als der arme Robson. Außerdem, wenn man damals ein Mädchen schwängerte und wenn sie keine Abtreibung wollte, dann heiratete man sie: Das waren die Spielregeln. Doch Adrian konnte sich nicht einmal mit dieser konventionellen Lösung abfinden. »Glaubst du, das kommt daher, weil er zuintelligent war?«, hatte meine Mutter zu meinem Ärger gefragt. Nein, mit Intelligenz hatte das nichts zu tun und mit moralischer Tapferkeit schon gar nicht. Er hatte nicht mit großer Geste ein existenzielles Geschenk zurückgewiesen; er hatte sich vor einem Kinderwagen im Flur gefürchtet.
    Was wusste ich schon vom Leben, ich, der ich so vorsichtig gelebt hatte? Der weder gewonnen noch verloren hatte, sondern das Leben einfach geschehen ließ? Der die üblichen Ambitionen gehabt und sich allzu rasch damit abgefunden hatte, dass sie sich nicht erfüllten? Der Verletzungen aus dem Weg ging und das Überlebensfähigkeit nannte? Der seine Rechnungen bezahlte,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher