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Nebelfront - Hinterm Deich Krimi

Nebelfront - Hinterm Deich Krimi

Titel: Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
Autoren: emons Verlag
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EINS
    Heiser drang der Schrei einer Krähe durch den Morgen. Sie
verbarg sich irgendwo im unsichtbaren Geäst einer knorrigen Birke, das im
dichten Nebel nur zu erahnen war. Fast unheimlich waberten die Schwaden
zwischen den Koniferen, schlanken Säulenwacholdern und spätherbstlichen
Rhododendren. Die Nässe war spürbar und gelangte mit jedem Atemzug bis in die
letzten Verästelungen der Lunge. Dort, wo der Blick den Dunst durchbrach, sah
man, wie sich ein Hauch Feuchtigkeit auf den bunten Blättern der wenigen
Laubbäume niederlegte und eine glänzende Schicht auf den polierten Grabsteinen
hinterließ.
    Erneut krächzte die Krähe. Es war nicht die Zeit für Spaziergänger,
die an schönen Tagen die gepflegte Anlage des Husumer Ostfriedhofs gern
aufsuchten, um in dem parkähnlichen Areal zwischen Flensburger und Schleswiger
Chaussee dem Stadtlärm zu entfliehen.
    Henry Vollstedt war mit der morbiden Stimmung vertraut. Seit dreißig
Jahren war der Friedhof sein Arbeitsplatz. Zu allen Jahreszeiten war er hier tätig,
pflegte die Anlage, reinigte und besserte die Wege aus, entleerte die
Abfallbehälter und hob die Gräber aus. Nach der Beisetzung kümmerte er sich um
das Einebnen der Grabstätte, das Fortschaffen des Grabschmucks und die weitere
Betreuung. Die Pflege der Grabstätten oblag den Hinterbliebenen oder
beauftragten Gärtnereien. Das hinderte Vollstedt aber nicht daran, an von allen
vergessenen Plätzen zu harken, grob das wuchernde Unkraut zu beseitigen und
gelegentlich eine Blume zu pflanzen.
    Dies war sein Friedhof. Er kannte fast
alle Gräber, konnte die Daten auf den Grabsteinen aufsagen, legte mit stoischem
Gleichmut neue an und sah das Ganze als Teil des natürlichen Kreislaufs des
Lebens. Der Tod barg für ihn keinen Schrecken mehr. Zu oft war er trauernden Hinterbliebenen
begegnet. Schon zum Zeitpunkt der Beerdigung vermochte er zu sagen, ob der
Besuch auf dem Friedhof ein einziger blieb oder ob sich hinterher jemand um die
Grabstätte kümmern würde.
    Heute Morgen war er allein unterwegs. Zu dieser frühen Stunde suchte
niemand das Gräberfeld auf, um sich um eine Ruhestätte zu kümmern, dort im
stillen Gedenken einen Moment zu verweilen oder um einfach nur die
Parklandschaft der Anlage zu genießen.
    Vollstedt bog mit seiner Schubkarre, auf der er ein paar Gartengeräte
transportierte, von einem der gepflasterten Hauptwege in einen Seitenweg ab.
Hierher kamen selten Besucher. Zumindest keine zufälligen. Vollstedts Gang war
nicht mehr so elastisch wie in früheren Jahren. Die schweren Stiefel schleppten
sich müde über den Erdboden, der Rücken war gekrümmt, die schwieligen Hände
umklammerten die Holme der Karre. Er fröstelte leicht in der Kühle des Morgens,
im dichten Nebeldunst. Später, wenn die Oktobersonne noch einmal ihre Kraft
entfalten würde, löste sich der Nebel mit Sicherheit auf, und es würde noch
einmal ein schöner Herbsttag werden.
    Er passierte eine Stelle, an der noch Kränze und Blumengebinde auf
einem frisch aufgeworfenen Erdhügel lagen. Der Mann, der dort vor zwei Tagen
beigesetzt worden war, war nur zwei Jahre älter als Vollstedt gewesen. Bald
würde er auch diese Parzelle so herrichten wie die anderen auf dem Friedhof,
später würde irgendwann der Grabstein gesetzt und das Grab bepflanzt werden. So
wie das Gras über dem Sarg würde es symbolisch über die Erinnerung an den
Verstorbenen wachsen. Und mit ein wenig Glück – Glück? – würden
irgendwann nur noch interessierte Besucher auf die verwitterte Inschrift
schauen, sie zu entziffern versuchen, nachrechnen, wie alt der Tote geworden
war, und sich keine weiteren Gedanken darüber machen, was für ein Leben er
geführt, was ihn bewegt, wer ihn geliebt oder vielleicht gehasst hatte.
    Heute war der Nebel – selbst für diese Jahreszeit –
besonders dicht. Im Stillen bedauerte Vollstedt jene Leute, die sich mit ihrem
Auto durch den Dunst tasten mussten. Er selbst hatte es nur wenige Schritte von
der Rungholtstraße zu seinem Friedhof.
    Er erschrak, als er ein Geräusch vernahm. In das Krächzen der Krähe
mischte sich ein Rascheln. Zu dieser frühen Stunde und bei dieser Witterung
glaubte er, der einzige Lebende auf dem Friedhof zu sein. Jetzt löste sich eine
Gestalt aus dem Dickicht der Säulenwacholder, nahm ganz langsam Konturen an und
kam auf ihn zu.
    Vollstedt blieb stehen. Er setzte die Schubkarre ab und drückte das
Kreuz durch.
    Schritt für Schritt näherte sich die Gestalt, blieb kurz vor
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