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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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der Brille drückte sich sofort, mit abgewandtem Gesicht, gegen die Regale mit Haushaltsartikeln, und alle drei verstummten. Als ich vorbeiging, sah mir der Ansteckermann ins Gesicht. »’n Abend«, sagte ich lächelnd. Er guckte weiter und verbeugte sich dann vom Nacken aus. Ich ließ es dabei bewenden und ging zurück in die Kneipe.
    Wenige Minuten darauf gesellten sich die drei zu den beiden Biertrinkern. Die Betreuerin ging an die Theke und bestellte. Mir fiel auf, dass sie zwar auf der Straßeausgelassen und kindisch gewesen waren, sich im Laden und in der Kneipe aber scheu und flüsternd verhielten. Den beiden Neuankömmlingen wurden Erfrischungsgetränke gebracht. Ich meinte, das Wort »Geburtstag« zu hören, aber vielleicht irrte ich mich auch. Ich fand, nun sei es an der Zeit, etwas zu essen zu bestellen. Mein Weg zur Theke würde nahe an ihrem Tisch vorbeiführen. Einen wirklichen Plan hatte ich nicht. Die drei, die aus dem Laden gekommen waren, standen noch und drehten sich leicht um, als ich mich näherte. Ich entbot dem Ansteckermann ein zweites fröhliches »’n Abend«, und er reagierte wie zuvor. Der Schlaksige war jetzt direkt vor mir, und als ich eben an ihm vorbeigehen wollte, blieb ich stehen und sah ihn mir richtig an. Er war etwa vierzig Jahre alt, gut einen Meter achtzig groß, hatte eine bleiche Haut und eine Brille mit dicken Gläsern. Ich konnte spüren, dass er mir am liebsten gleich wieder den Rücken zugekehrt hätte. Stattdessen tat er etwas Unerwartetes. Er nahm die Brille ab und schaute mir direkt ins Gesicht. Seine Augen waren braun und sanft.
    Fast ohne nachzudenken sagte ich leise zu ihm: »Ich bin ein Freund von Mary.«
    Ich sah, wie er erst anfing zu lächeln, dann von panischem Schrecken erfasst wurde. Er drehte sich weg, stieß ein gedämpftes Wimmern aus, schlurfte an die indische Frau heran und fasste ihre Hand. Ich ging weiter zur Theke, setzte mich mit halbem Hintern auf einen Hocker und vertiefte mich in die Speisekarte. Kurz darauf merkte ich, dass die dunkelhäutige Betreuerin neben mir stand.
    »Tut mir leid«, sagte ich. »Hoffentlich habe ich nichts Falsches getan.«
    »Ich weiß nicht recht«, antwortete sie. »Es ist nicht gut, ihn zu erschrecken. Vor allem jetzt.«

    »Ich habe ihn schon einmal getroffen, mit Mary, als sie einmal nachmittags hier war. Ich bin ein Freund von ihr.«
    Sie sah mich an, als wollte sie meine Beweggründe und meine Aufrichtigkeit abschätzen. »Dann verstehen Sie das sicher«, sagte sie leise, »nicht wahr?«
    »Ja, ich verstehe.«
    Und das Komische war, ich verstand tatsächlich. Ich brauchte nicht mehr mit dem Ansteckermann oder dem Sozialarbeiter zu sprechen. Jetzt wusste ich.
    Ich hatte es ihm am Gesicht angesehen. Es kommt nicht oft vor, dass dieser Satz wahr ist, stimmt’s? Jedenfalls nicht bei mir. Wir hören uns an, was die Leute sagen, wir lesen, was sie geschrieben haben – das ist unser Beweis, das ist unsere Bestätigung. Doch wenn das Gesicht dem widerspricht, was ein Mensch sagt, dann befragen wir das Gesicht. Ein verschlagener Blick, ein aufsteigendes Erröten, das unkontrollierte Zucken eines Gesichtsmuskels – und dann wissen wir. Wir erkennen die Heuchelei oder die falsche Behauptung, und die Wahrheit steht evident vor uns.
    Doch hier war es anders, einfacher. Es gab keinen Widerspruch – ich sah es ihm einfach am Gesicht an. An den Augen, ihrer Farbe und ihrem Ausdruck, und an den Wangen, ihrer Blässe und untergründigen Struktur. Bestätigung gab mir seine Größe und die Art, wie die Knochen und Muskeln diese Größe strukturierten. Das war Adrians Sohn. Ich brauchte keine Geburtsurkunde und keinen DNA – Test – ich sah es und ich spürte es. Und natürlich kam es zeitlich hin: So alt müsste er jetzt ungefähr sein.
    Meine erste Reaktion, das gebe ich zu, war solipsistisch. Ich musste unwillkürlich daran denken, was ichin dem an Veronica gerichteten Teil meines Briefs geschrieben hatte: »Fragt sich nur, ob du schwanger werden kannst, bevor er merkt, wie stinklangweilig du bist.« Das hatte ich schon damals nicht ernst gemeint – ich hatte einfach um mich geschlagen und etwas gesucht, was richtig wehtat. In Wirklichkeit fand ich Veronica in der ganzen Zeit, als ich mit ihr ging, alles Mögliche – faszinierend, mysteriös, überheblich –, aber nie langweilig. Und selbst nachdem ich in jüngster Zeit mit ihr zu tun gehabt hatte, konnte ich zwar die Adjektive aktualisieren – nervtötend, verbohrt,
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