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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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hochnäsig, dabei in gewisser Weise immer noch faszinierend –, aber langweilig fand ich Veronica nie. Also war es ebenso falsch wie verletzend.
    Aber das war noch nicht alles. In meinem Bemühen, Schaden anzurichten, hatte ich geschrieben: »Ich hoffe so halbwegs, ihr kriegt ein Kind, ich halte sehr viel von der Rache der Zeit. Aber die Rache muss die Richtigen treffen, d.   h. euch zwei.« Und weiter: »Also wünsch ich euch das nicht. Es wär nicht gerecht, das einem unschuldigen Fötus aufzubürden, dass er eines schönen Tages entdecken muss, dass er die Frucht eurer Lenden ist, wenn ihr mir den poetischen Ausdruck verzeiht.« Das Wort Reue leitet sich etymologisch vom mittelhochdeutschen riuwe ab, was ursprünglich »seelischer Schmerz« bedeutete, und den empfand ich jetzt. Stell dir meinen seelischen Schmerz vor, als ich jetzt wieder las, was ich damals geschrieben hatte. Es erschien mir wie ein altertümlicher Fluch, und ich erinnerte mich nicht einmal daran, ihn ausgestoßen zu haben. Natürlich glaube – glaubte – ich nicht an Flüche. Das heißt nicht daran, dass Worte Ereignisse auslösen. Doch allein schon das Benennen von etwas, was anschließend eintritt – man wünscht jemandem ein bestimmtes Übel, und dieses Übel geschieht –,das geht noch immer mit einem Schauer des Übersinnlichen einher. Dass mein fluchendes junges Ich und mein altes Ich, das die Folge des Fluchs erlebte, ganz verschiedene Gefühle hatten – das war ungeheuer bedeutungslos. Wenn du mir, noch ehe das alles angefangen hatte, das kontrafaktische Szenario aufgetischt hättest, dass Adrian, statt sich umzubringen, Veronica geheiratet hätte, dass sie ein Kind miteinander gehabt hätten, dann vielleicht noch weitere und schließlich Enkelkinder, dann hätte ich gesagt: Soll mir recht sein, jeder lebt sein Leben; ihr seid euren Weg gegangen und ich meinen, alles in Butter. Und jetzt stießen diese hohlen Klischees auf die unverrückbare Wahrheit dessen, was geschehen war. Die Rache der Zeit an dem unschuldigen Fötus. Ich dachte daran, wie dieser arme, beschädigte Mann sich im Laden von mir abgewendet und das Gesicht in Küchenrollen und Riesenpackungen von extraweichem Toilettenpapier gedrückt hatte, um mir zu entgehen. Nun, sein Instinkt war richtig gewesen: Ich war ein Mensch, dem man den Rücken zukehren sollte. Falls das Leben tatsächlich Verdienste belohnte, dann hatte ich es verdient, dass man sich von mir fernhielt.
    Erst vor wenigen Tagen hatte ich mich einer verschwommenen Fantasie über Veronica hingegeben und mir gleichzeitig eingestanden, dass ich nichts von ihrem Leben in den mehr als vierzig Jahren seit unserer letzten Begegnung wusste. Jetzt hatte ich ein paar Antworten auf die Fragen, die ich nicht gestellt hatte. Sie war von Adrian schwanger geworden, und – wer weiß? – vielleicht hatte das Trauma seines Selbstmords sich auf das Kind in ihrem Schoß ausgewirkt. Sie hatte einen Sohn zur Welt gebracht, bei dem irgendwann festgestellt wurde, dass er … was war? Zu keiner eigenständigen Funktion in derGesellschaft fähig; auf ständige Hilfe angewiesen, emotional wie finanziell. Ich fragte mich, wann man das wohl festgestellt hatte. Gleich nach der Geburt, oder hatte es ein paar Jahre Atempause gegeben, in denen Veronica sich an dem erfreuen konnte, was aus den Trümmern gerettet worden war? Doch danach – wie lange hatte sie ihr Leben für ihn geopfert, hatte vielleicht eine beschissene Teilzeitstelle angenommen, während er eine Förderschule besuchte? Und dann war er vermutlich größer geworden und schwieriger im Umgang, und am Ende wurde ihr der furchtbare Kampf zu viel und sie willigte ein, ihn wegzugeben. Stell dir vor, was das für ein Gefühl gewesen sein muss; stell dir den Verlust vor, das Gefühl des Versagens, die Schuldgefühle. Und da beklagte ich mich insgeheim, wenn meine Tochter mal vergaß, mir eine E-Mail zu schicken. Ich erinnerte mich auch an meine ungalanten Gedanken nach dem ersten Wiedersehen mit Veronica auf der Wackelbrücke. Ich dachte, sie sehe etwas schäbig und ungekämmt aus; ich dachte, sie sei schwierig, unfreundlich, reizlos. In Wirklichkeit konnte ich von Glück reden, dass sie mich überhaupt eines Wortes gewürdigt hatte. Und da hatte ich erwartet, dass sie mir Adrians Tagebuch übergeben würde? An ihrer Stelle hätte ich es wohl auch verbrannt, und nun glaubte ich ihr, dass sie das getan hatte.
    Das konnte ich keinem Menschen erzählen – jedenfalls auf absehbare
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