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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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wir?
    Dennoch, ich wiederhole mich da gern, habe ich einen instinktiven Überlebenswillen, einen Selbsterhaltungstrieb. Und der Glaube daran ist fast so gut, wie diesen Instinkt tatsächlich zu besitzen, weil beides zu demselben Verhalten führt. Darum kam ich nach einer Weile wieder zu mir. Ich wusste, ich musste wieder in den Zustand zurückkehren, in dem ich gewesen war, bevor ich mich in diese alberne, senile Fantasie verrannte. Ich musste mich um meine Angelegenheiten kümmern, was immer das außer dem Aufräumen der Wohnung und der Betreuung der Bibliothek im Ortskrankenhaus sein mochte. Ach ja, und ich könnte mich wieder darauf konzentrieren, mein Eigentum zu bekommen.

    »Lieber Jack«, schrieb ich. »Ob du mir noch mal behilflich sein könntest wegen Veronica. Leider gibt sie mir immer noch so viele Rätsel auf wie in alten Zeiten. Tja, man lernt eben nie aus. Wie auch immer, was das Tagebuch meines alten Freundes angeht, das mir deine Mutter in ihrem Testament vermacht hat, ist der Gletscher nicht geschmolzen. Hast du irgendeinen Rat für mich? Und noch etwas leicht Schleierhaftes. Hab mich neulich ganz nett mit V in London zum Essen getroffen. Dann hat sie mich eines Nachmittags an einen U-Bahnhof der Northern Line bestellt. Anscheinend wollte sie mir ein paar Leute in offener Betreuung zeigen und wurde nach getaner Tat sauer. Ob du mich da erhellen kannst? Hoffe, dir geht’s gut. Grüße, Tony W.«
    Hoffentlich klang mein jovialer Ton in seinen Ohren nicht so falsch wie in meinen. Dann schrieb ich an Mr Gunnell, er möge mich in der Sache von Mrs Fords Testament vertreten. Ich teilte ihm – vertraulich – mit, das Verhalten der Tochter der Erblasserin lasse in letzter Zeit auf eine gewisse Labilität schließen, und darum hielte ich es für das Beste, wenn ein juristischer Kollege an Mrs Marriott schriebe und auf eine rasche Lösung der Angelegenheit dringe.
    Ich gestattete mir ein persönliches, nostalgisches Abschiednehmen. Ich dachte daran, wie Veronica getanzt hatte und wie ihr die Haare dabei ins Gesicht hingen. Ich dachte daran, wie sie ihrer Familie verkündet hatte: »Ich begleite Tony jetzt zu seinem Zimmer«, wie sie mir zugeflüstert hatte, ich solle den Schlaf der Verruchten schlafen, und wie ich umgehend in das kleine Waschbecken onaniert hatte, noch ehe sie wieder unten war. Ich dachte an die schimmernde Innenseite meines Handgelenks, an den bis zum Ellbogen hochgerollten Hemdsärmel.

    Mr Gunnell schrieb zurück, er werde meinen Anweisungen gemäß handeln. Bruder Jack hat nie geantwortet.
    Ich hatte – klar doch – bemerkt, dass das Parkverbot nur zwischen zehn und zwölf Uhr vormittags galt. Wahrscheinlich sollte das die Pendler davon abhalten, bis hierher nach London hineinzufahren, ihren Wagen für den ganzen Tag abzustellen und dann die U-Bahn zu nehmen. Darum beschloss ich, diesmal mit meinem Auto zu kommen: einem VW Polo, dessen Reifen weitaus länger halten würden als die von Veronicas Wagen. Nach ungefähr einer Stunde in der Hölle des nördlichen Rings war ich am Ziel, parkte an der früheren Stelle kurz vor einer leicht abschschüssigen Vorortstraße, wo die Spätnachmittagssonne auf den Staub einer Ligusterhecke fiel. Scharen von Schulkindern waren auf dem Heimweg, Jungen, denen das Hemd aus der Hose hing, Mädchen mit aufreizend kurzen Röcken; viele telefonierten mit dem Handy, einige aßen, andere rauchten. Als ich zur Schule ging, hatte man uns eingeschärft, solange wir Uniform trügen, hätten wir uns so zu verhalten, dass es ein gutes Licht auf unsere Schule warf. Also kein Essen und Trinken auf der Straße; und wer beim Rauchen erwischt wurde, bekam Prügel. Auch das Fraternisieren mit dem anderen Geschlecht war verboten: Die nahe gelegene Partnerschule für Mädchen schloss eine Viertelstunde, bevor die Jungen freigelassen wurden, damit sich die Schülerinnen rechtzeitig vor den raubgierigen und priapeischen jungen Mannsbildern in Sicherheit bringen konnten. Ich saß im Auto und erinnerte mich an all das, nahm die Unterschiede zur Kenntnis und kam zu keinem Schluss. Ich war weder dafür noch dagegen. Ich war neutral; ich musste mich einstweilen meines Rechts auf Gedanken und Urteile enthalten. Mich interessierte nur, warum ich vor einigen Wochen hier in diese Straße gebracht worden war. Also saß ich bei offenem Fenster da und wartete.
    Nach etwa zwei Stunden gab ich auf. Am nächsten Tag kam ich wieder und am übernächsten auch, ohne Erfolg. Dann fuhr ich zu
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