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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte
Autoren: Ray Bradbury
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    Es war einmal eine Stadt, die bestand eigentlich aus zwei Städten. Die eine war hell und die andere dunkel; die eine fand den ganzen Tag über vor Betriebsamkeit keine Ruhe, wohingegen die andere keinen Muckser tat. Die eine war warm und erstrahlte im Glanz ständig wechselnder Lichter; die andere war kalt und zu Stein erstarrt. Und jeden Nachmittag, wenn hinter Maximus Films, der Stadt der Lebenden, die Sonne langsam unterging, wurde das Studio dem Friedhof Green Glades immer ähnlicher – der Stadt der Toten, die direkt gegenüber lag.
    Immer wenn die Scheinwerfer erloschen und der Trubel zum Erliegen kam und der Wind, der um die Ecken der Aufnahmestudios wehte, allmählich abkühlte, dann schien vom Eingangstor der Lebenden aus eine unglaubliche Melancholie durch die dämmerigen Avenues zu kriechen, bis hin zu jener hohen Ziegelmauer, die diese beiden Städte, die eigentlich eins waren, voneinander trennte. Und mit einem Mal waren die Straßen von etwas erfüllt, das man nur den Nachhall der Erinnerung nennen kann. Denn auch wenn die Menschen sich davongemacht hatten, so ließen sie doch die Gebäude zurück, die von den Phantomen schier unglaublicher Ereignisse heimgesucht wurden.
    Tatsächlich handelte es sich bei dieser Stadt um die unglaublichste Stadt der Welt, in der alles geschehen konnte und auch ständig geschah. Zehntausend Tode sind hier gestorben worden, und wenn die Toten im Kasten waren, standen sie lachend auf und trollten sich. Ganze Häuserblocks gingen in Flammen auf, aber niemals verbrannte etwas. Sirenen heulten, Polizeiautos schrammten um die Ecke, überschlugen sich, und zu guter Letzt pellten sich die Beamten ihre blauen Flecken einfach wieder ab, wischten die orangefarbene Schminke von den Gesichtern und gingen nach Hause, in ihre bescheidenen Bungalow-Wohnanlagen, irgendwo dort draußen in dieser großen und meistens langweiligen Welt.
    Hier hingegen streiften Dinosaurier umher, eben noch als Miniaturmodelle und im nächsten Augenblick als zwanzig Meter hohe Monster hinter halbnackten Jungfrauen, die in den höchsten Tönen um Hilfe kreischten. Von hier gingen die unterschiedlichsten Kreuzzüge aus, deren Teilnehmer ein Stück weiter unten an der Straße beim Westernkostümverleih ihre Rüstungen an den Nagel hängten und ihre Lanzen schön ordentlich verstauten. Hier an diesem Ort ließ Heinrich der Achte ein paar Köpfe rollen; von hier zog der leibhaftige Dracula los und hier zerfiel er zu Staub; hier fanden sich auch die Stationen des Kreuzweges und eine stets mit frischem Blut gezogene Spur, auf der sich die Drehbuchautoren hinauf zum Kalvarienberg schleppten, ächzend unter der drückenden Last der Neufassungen, angetrieben von peitschenschwingenden Regisseuren und Filmcuttern mit rasiermesserscharfen Klingen. Von diesen Türmen aus wurden die gläubigen Muslime jeden Tag bei Sonnenuntergang zur Andacht gerufen; dann glitten Limousinen geräuschlos aus dem Tor, hinter jeder Scheibe die gesichtslose Macht, und das Fußvolk wandte den Blick ab, aus Furcht, auf der Stelle mit Blindheit geschlagen zu werden.
    Wenn das schon die reine Wahrheit ist, dann fällt es nicht schwer zu glauben, daß die alten Spukgestalten bei Sonnenuntergang auferstanden und die warme Stadt, von ihrer Kühle erfaßt, immer mehr den marmornen Gartenwegen auf der anderen Seite der Mauer glich. Um Mitternacht schließlich, in diesem eigenartigen Frieden, den die Temperatur, der Wind und der Klang einer weit entfernten Kirchenglocke entstehen ließ, wurden die beiden Städte endlich eins. Zwischen Indien und Frankreich, von der Westernstadt Kansas zu den Sandsteinfassaden von New York, zwischen Piccadilly und Spanischer Treppe gab es nur noch den Nachtwächter, der für diese zwanzigtausend Meilen geographischer Unwahrscheinlichkeit gerade eben zwanzig Minuten brauchte. Auf der anderen Seite der Mauer machte sein Gegenüber zwischen den Monumenten die Runde, ließ das Licht seiner Taschenlampe über erstarrte Engelsfiguren huschen, las Grabsteininschriften wie einen Filmabspann und setzte sich schließlich nieder, um seinen Mitternachtstee in der Gesellschaft eines Keystone Kop, oder was davon noch übrig war, zu sich zu nehmen. Um vier Uhr morgens – die Wächter schliefen tief und fest – warteten die beiden Städte, aneinandergekauert und wohlbehütet, auf die Sonne, die schon bald über verdorrten Blumen und verwitterten Gräbern aufgehen würde; und über einem Indien aus Pappe, bereit für die
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