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Unternehmen Wahnsinn

Unternehmen Wahnsinn

Titel: Unternehmen Wahnsinn
Autoren: Theresia Volk
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Symptom 1: Extrem bewegt
    Es treten auf: die Bewegungsseher, das Manager-ADHS, das Extremismus-Paradox und surreales Weitermachen.
    Hysterie nennt man im allgemeinen Sprachgebrauch, wenn eine Gefühlsäußerung in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrer Ursache steht. Grelles Gekreische beim Anblick einer Spinne gilt als klassisches Beispiel. Oder morgens um vier Uhr schweißgebadet und leicht panisch wach werden, wenn der Anlass eine Präsentation ist, die am folgenden Tag im Projektmeeting ansteht. Keine gerade erfolgte Kündigung, auch keine bevorstehende Verhaftung, sondern ein Informationsbeitrag innerhalb einer Besprechung unter zivilisiert gekleideten, meist überdurchschnittlich gebildeten Damen und Herren, mit denen man schon einige Zeit geschäftlich zu tun hat. Kollegen, Kunden, Lieferanten – nicht Dämonen, Bestien oder Henker. Dennoch bringen sie einen um den Schlaf.
    Beim Thema »Arbeit« ist mittlerweile flächendeckend Hysterisierung zu konstatieren. Millionen tätiger Menschen packt die Panik beim Gedanken an ihr Arbeitsumfeld, Schlafstörungen und Nervosität sind noch die harmlosesten Symptome.
    Und in der Tat scheinen angesichts des harten Kampfes um Aufmerksamkeit am Arbeitsplatz hysterische Zuspitzungen bestimmter Sachlagen durchaus vernünftig. Nur so wird der Einzelne überhaupt noch wahrgenommen. Denn: Ohne Katastrophenalarm kein Handlungsbedarf. Ein Manager, der täglich von über 400 E-Mails behelligt wird, muss nun mal selektieren. Wenn da bei Botschaften oder Anfragen nicht eine gewisse Heftigkeit rüberkommt, gibt es für ihn keinen Anlass zu reagieren.
    In dieser Fokussierung auf die heftigste Gestik und den größten Sprung ähneln wir mittlerweile vielen Wildtieren. Diese sind »Bewegungsseher«, das heißt sie sehen nicht, was ist, sondern nur, was sich bewegt. Der Beutegreifer hat zwar scharfe Augen, aber er sieht nur in einem sehr eingeschränkten Gesichtsfeld gut; das Fluchttier (ein Hase zum Beispiel) hat zwar beinahe einen 360°-Blick, allerdings nimmt es aufgrund seiner seitlichen Augenanordnung eher schemenhaft wahr. Beiden gemeinsam ist: Sie sehen nur, was sich bewegt. Der Greifvogel findet nur die Maus, die hüpft, und der Hase stürmt nur davon, wenn sich ein Jäger bewegt. Im unternehmensweiten Trubel ist es so: Kleine Bewegungen fallen nicht mehr auf. Um jemanden zum Handeln, etwa zum Losrennen oder Zuschlagen, zu bewegen, braucht es Superlative als Impulse. Und die Zeit ist knapp. Differenzierte, elaborierte, nicht-hysterische Auslassungen drohen ins schwarze Aufmerksamkeitsloch zu fallen. Nur Katastrophen, Sensationen und Mega-Gewinne gelangen noch in unser Bewusstsein und auf die Tagesordnung. So lässt sich das Aufmerksamkeitsdefizit austricksen, das Adrenalin fließt weiter und die Hyperaktivität gedeiht. Die entsprechenden Gefühlsäußerungen angesichts dieser neuen, ADHS-geprägten Arbeitswelt heißen folgerichtig Panik (in Todesangst flüchten) oder Siegestaumel (die Beute greifen).
    Extreme im Doppelpack
    Dauer-Hysterisierung gebiert ein anderes Phänomen: eine Art Extremismus-Paradox. Ein Superlativ kommt nämlich selten alleine, gern taucht er mit seinem genauen Gegenpol auf. Größenwahn und Ohnmacht. Begeisterung und Lethargie. Ganz oder gar nicht. Die Nummer eins der Branche oder Insolvenz. Zur Zeit der Finanzmarktkrise wurde uns das auf beeindruckende Weise vor Augen geführt. Aus dem »Alles ist möglich« wurde über Nacht ein »Nichts geht mehr«. Exorbitante Gewinne und unvorstellbare Verluste waren und sind nur einen winzigen Tick (oder Klick) voneinander entfernt.
    Aber auch im Normalbetrieb eines Unternehmens zeigen sich diese Extreme im Doppelpack. Brandreden wechseln übergangslos mit Beruhigungsfloskeln: »Wir müssen endlich aufbrechen in eine neue Zukunft, sonst gehen wir unter« – aber gleichzeitig: »Alles läuft prima, wir sind stolz, dass wir unsere Ziele bereits erreicht haben.« Wir haben es geschafft – wir werden gekauft – wir sind gerettet – wir stehen am Abgrund – alles ist möglich – wir haben keine Wahl – nichts hält uns auf – wir sind die Größten – nach uns die Sintflut … So schnell aufeinander kann einem gar nicht froh ums Herz und wieder angst und bang werden, wie die extremen Meldungen vorbeijagen. Da braucht es, zur persönlichen Verdauung sozusagen, einen weiteren Doppel-Decker: den Cocktail aus Beruhigungs- und Aufputschmitteln. Die Klassiker Rotwein und Kaffee sind dabei schon fast rührende
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