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Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)

Titel: Der Mann im grauen Flanell: Roman (German Edition)
Autoren: Sloan Wilson
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1
    Sieben Jahre hatten sie in dem Häuschen in der Greentree Avenue in Westport, Connecticut, gelebt, und nun verabscheuten sie es beide. Dafür gab es viele Gründe, keiner davon logisch, aber allesamt zwingend. Zum einen hatte das Haus irgendwie das bösartige Talent, Beweise für ihre Schwächen vorzulegen und alle Spuren ihrer Stärken zu verwischen. Der struppige Rasen und der mit Unkraut überwucherte Garten verkündeten Passanten und Nachbarn, dass Thomas R. Rath und seine Familie das Anwesen offenbar nicht gern »in Schuss hielten« und es sich nicht leisten konnten, jemand anderes dafür zu bezahlen. Drinnen war das Haus sogar noch rachsüchtiger. Im Wohnzimmer wies der Putz nahe dem Fußboden eine große Delle auf, von der sich ein gewaltiger Riss in Form eines Fragezeichens aufschwang. Die Beschädigung stammte aus dem Herbst 1952, als Tom, nachdem er monatelang unter großen Mühen die aufgelaufenen Rechnungen bezahlt hatte, eines Abends feststellen musste, dass Betsy eine Kristallvase für vierzig Dollar gekauft hatte. Eine derartige Verschwendungssucht entsprach ihr gar nicht, jedenfalls nicht seit dem Krieg. Betsy war eine gewissenhafte Haushälterin, und wenn sie einmal etwas getan hatte, was Tom missfiel, besprachen sie die Angelegenheit mit sorgsamer Vernunft. An jenem Abend aber war Tom müde und beunruhigt, weil er selbst gerade siebzig Dollar für einen neuen Anzug ausgegeben hatte, den er für nötig befand, um bei der Arbeit ordentlich gekleidet zu sein, und auf dem Höhepunkt ihres heftigen Streits hatte er dann die Vase genommen und sie gegen die Wand geschleudert. Das schwere Glas zersplitterte, der Putz zersprang, und zwei der Latten dahinter zerbrachen. Am nächsten Morgen arbeiteten Tom und Betsy gemeinsam auf Knien, um den Putz zu flicken, und auch die ganze Wand strichen sie neu, doch als die Farbe getrocknet war, waren die große Delle nahe dem Fußboden und der Riss, der sich davon in Form eines Fragezeichens fast bis zur Decke schwang, noch deutlich sichtbar. Dass der Riss die Form eines Fragezeichens hatte, erschien Tom und Betsy nicht als Symbol, nicht einmal erheiternd – er war nur ärgerlich. Seine Form veranlasste die Leute, wie abwesend daraufzustarren, und einmal sagte auf einer Cocktailparty einer der Gäste, der schon ein wenig zu viel getrunken hatte: »Na, das ist aber komisch. Ist euch schon mal das große Fragezeichen an der Wand da aufgefallen?«
    »Das ist nur ein Riss«, sagte Tom.
    »Aber warum denn in der Form eines Fragezeichens?«
    »Reiner Zufall.«
    »Das ist aber komisch«, sagte der Gast.
    Tom und Betsy versicherten einander, eines Tages würden sie die ganze Wand neu verputzen lassen, doch dazu kam es nie. Der Riss blieb als ständige Mahnung an Betsys Augenblick von Verschwendungssucht, Toms Augenblick von Gewalttätigkeit und ihre Unfähigkeit, Wände ordentlich zu reparieren oder sie gegen Bezahlung reparieren zu lassen. Tom fand es ironisch, dass das Haus sich ein Souvenir an solche Dinge bewahrte und zugleich zuließ, dass schöne und freundliche Abende spurlos vorübergingen.
    Der Riss im Wohnzimmer war nicht die einzige Erinnerung an das Schlimmste. Ein Tintenfleck mit Handabdrücken auf der Tapete in Janeys Zimmer gemahnte an eines der wenigen Male, als Janey mutwillig Eigentum zerstörte, und an das einzige Mal, als Betsy je bei ihr die Beherrschung verlor und sie schlug. Janey war fünf und das mittlere der drei Rath’schen Kinder. Sie übersteigerte alles: sie kreischte, wenn sie weinte, und wenn sie glücklich war, schien es, als enthielte ihr kleines Gesicht alle Freude der Welt. Als sie den Entschluss fasste, mit Tinte zu spielen, goss sie sorgfältig Tinte über beide Hände und machte säuberlich Abdrücke auf die Tapete, vom Fußboden bis hinauf, so weit sie eben reichte. Betsy war so wütend, dass sie ihr auf beide Hände schlug, und Janey, die einfach nur fand, sie sei mitten in einem künstlerischen Projekt unterbrochen worden, lag eine Stunde lang schluchzend auf dem Bett und rieb sich mit den Händen die Augen, bis ihr ganzes Gesicht voller Tinte war. Betsy kam sich vor wie eine Mörderin und versuchte, sie zu trösten, aber nicht einmal Im-Arm-Halten und Schaukeln wirkten, und Betsy stellte schockiert fest, dass das Kind schlotterte. Als Tom abends nach Hause kam, lagen Mutter und Tochter eng umschlungen auf dem Bett und schliefen. Beide Gesichter waren voller Tinte. Das alles behielt und speicherte die Wand.
    Tausend kleine
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