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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Allerdings gibt es eine Denkrichtung, der zufolge man über jedes historische Ereignis – selbst den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zum Beispiel – im Grunde nur sagen kann, es sei ›etwas geschehen‹.«
    »Ach wirklich? Tja, dann wäre ich wohl arbeitslos.« Nach einigem kriecherischem Gelächter verzieh uns Old Joe Hunt unsere Ferienfaulheit und klärte uns über den polygamen königlichen Schlächter auf.
    In der nächsten Pause ging ich auf Finn zu. »Ich bin Tony Webster.« Er sah mich argwöhnisch an. »Toller Spruch vorhin bei Hunt.« Er schien nicht zu wissen, worauf ich anspielte. »Darüber, dass ›etwas geschehen‹ sei.«
    »Oh. Ja. Ich war ziemlich enttäuscht, dass er nicht weiter darauf eingegangen ist.«
    Das war nicht das, was ich erwartet hatte.
    Noch ein Detail, an das ich mich erinnere: Wir drei trugen zum Zeichen unserer Verbundenheit die Armbanduhr mit dem Zifferblatt an der Innenseite des Handgelenks. Natürlich war das eine affektierte Marotte, aber vielleicht auch mehr. Sie ließ die Zeit wie etwas Persönliches, ja Geheimes erscheinen. Wir erwarteten, dass Adrian diese Angewohnheit bemerken und sich zu eigen machen würde; aber das tat er nicht.
    Am selben Tag – oder vielleicht auch einem anderen – hatten wir dann eine Doppelstunde Englisch bei Phil Dixon, einem jungen Lehrer, frisch aus Cambridge. Er nahm gern zeitgenössische Texte mit uns durch und provozierte uns manchmal mit unerwarteten Äußerungen. »›Geburt, Koitus und Tod‹ – darauf läuft, wie T.   S.Eliot sagt, alles hinaus. Gibt es Stellungnahmen dazu?« Einmal verglich er einen Shakespeare-Helden mit Kirk Douglas in Spartacus. Und ich weiß noch, wie er, als wir über die Lyrik von Ted Hughes sprachen, professoral den Kopf schief legte und murmelte: »Natürlich fragen wir uns alle, was wohl passiert, wenn ihm mal die Tiere ausgehen.« Manchmal redete er uns mit »Gentlemen« an. Selbstverständlich vergötterten wir ihn.
    An jenem Nachmittag teilte er ein Gedicht ohne Titel, Datum oder Name des Verfassers aus, gab uns zehn Minuten und wollte dann unsere Eindrücke hören.
    »Fangen wir mit Ihnen an, Finn? Einfach ausgedrückt, was meinen Sie, worum es in diesem Gedicht geht?«
    Adrian schaute von seinem Tisch auf. »Eros und Thanatos, Sir.«
    »Hmm. Weiter.«
    »Sex und Tod«, fuhr Finn fort, als verstünden womöglich nicht nur die Blödmänner in der hinteren Bank kein Griechisch. »Oder Liebe und Tod, wenn Ihnen das lieber ist. Jedenfalls um das erotische Prinzip und den Konflikt mit dem Todesprinzip. Und was aus diesem Konflikt folgt. Sir.«
    Vielleicht wirkte ich stärker beeindruckt, als Dixon gut für mich fand.
    »Webster, erhellen Sie uns weiter.«
    »Ich dachte, das ist einfach ein Gedicht über eine Schleiereule, Sir.«
    Das war auch so ein Unterschied zwischen uns dreien und unserem neuen Freund. Wir waren grundsätzlich auf Verarschung aus, außer wenn es uns ernst war. Ihm war es grundsätzlich ernst, außer wenn er auf Verarschung aus war. Es dauerte eine Weile, bis wir dahinterkamen.

    Adrian ließ sich in unsere Gruppe hineinziehen, ohne zu erkennen zu geben, dass er das gewollt hätte. Vielleicht hatte er es gar nicht gewollt. Er änderte auch seine Ansichten nicht, um sie mit unseren in Einklang zu bringen. Beim Morgengebet stimmte er vernehmlich in die Responsorien ein, während Alex und ich nur stumm die Lippen bewegten und Colin sich der satirischen Masche bediente, enthusiastisch zu brüllen wie ein Pseudo-Zelot. Wir drei hielten Schulsport für einen kryptofaschistischen Plan zur Unterdrückung unseres Sexualtriebs; Adrian trat dem Fechtclub bei und trainierte Hochsprung. Wir waren offensiv unmusikalisch; er brachte seine Klarinette in die Schule mit. Wenn Colin über die Familie herzog, ich mich über das politische System lustig machte und Alex philosophische Einwände gegen die Wahrnehmbarkeit der Realität vorbrachte, behielt Adrian seine Meinung für sich – zumindest am Anfang. Er schien an etwas zu glauben. Wir auch – nur wollten wir selbst bestimmen, woran wir glaubten, statt zu glauben, was uns vorgegeben wurde. Daher unser reinigender Skeptizismus oder was wir dafür hielten.
    Die Schule lag im Zentrum von London, und wir reisten jeden Tag aus unserem jeweiligen Stadtbezirk an, wobei wir von einem Herrschaftssystem ins andere übergingen. Damals war alles schlichter und klarer: weniger Geld, keine elektronischen Geräte, wenig Modediktat, keine Freundinnen. Nichts konnte uns
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