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Vom Ende einer Geschichte

Vom Ende einer Geschichte

Titel: Vom Ende einer Geschichte
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Colins Mutter mich seinen »schwarzen Engel«; mein Vater gab Alex die Schuld, als er mich bei der Lektüre des Kommunistischen Manifests erwischte; Alex’ Eltern hatten Colin im Verdacht, als sie Alex mit einem Krimi der knallharten amerikanischen Schule ertappten. Und so immer weiter. Bei Sex war es genauso. Unsere Eltern glaubten, wir würden einander so korrumpieren, dass wir zum Schreckgespenst ihrer schlimmsten Träume würden: ein unverbesserlicher Onanist, ein liebreizender Homo, ein unbekümmert schwängernder Wüstling. Um unseretwillen fürchteten sie die engen Bande pubertärer Freundschaft, das Raubtiergebaren fremder Männer in Eisenbahnzügen, die Reize von Mädchen der falschen Sorte. Wie weit ihre Ängste doch über unsere Erfahrungen hinausgingen.
    Eines Nachmittags ließ uns Old Joe Hunt, als wollte er auf Adrians frühere Herausforderung zurückkommen,die Ursachen des Ersten Weltkriegs erörtern – insbesondere das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und die Verantwortung des Mörders dafür, das Ganze in Gang gesetzt zu haben. Damals waren wir fast alle Absolutisten. Wir wollten Ja oder Nein, Lob oder Tadel, Schuld oder Unschuld – oder, im Fall von Marshall, Unruhe oder große Unruhe. Wir wollten, dass ein Spiel mit Sieg oder Niederlage endete, nicht mit einem Unentschieden. Daher war der serbische Revolverheld, dessen Name mir längst entfallen ist, für manche zu hundert Prozent persönlich verantwortlich: Nimmt man ihn aus der Gleichung heraus, wäre der Krieg nie geschehen. Andere machten zu hundert Prozent die historischen Kräfte verantwortlich, die die feindlichen Nationen auf einen unausweichlichen Kollisionskurs geführt hätten: »Europa war ein Pulverfass, das jeden Moment explodieren konnte« und so weiter. Anarchischere Geister wie Colin argumentierten, alles werde vom Zufall regiert, die Welt existiere in einem Zustand fortwährenden Chaos, und nur ein primitiver Erzähltrieb, der zweifellos auch bloß ein Überbleibsel der Religion sei, wolle im Nachhinein dem, was hätte geschehen können oder auch nicht, Bedeutung überstülpen.
    Hunt nickte nur kurz zu Colins Versuch, alles zu unterminieren, als sei morbider Unglaube eine natürliche Begleiterscheinung der Pubertät und werde sich mit der Zeit auswachsen. Zu unserem Ärger führten Eltern und Lehrer uns ständig vor Augen, dass auch sie einmal jung gewesen und darum zu einer Meinung befugt seien. Es ist nur eine Phase, behaupteten sie beharrlich. Das wächst sich aus; das Leben wird euch schon beibringen, was Realität und Realismus ist. Doch damals weigerten wir uns anzuerkennen, dass sie jemals wie wir gewesen seien,und wir wussten, dass wir das Leben – und die Wahrheit und die Moral und die Kunst – sehr viel klarer erfassten als diese kompromittierten alten Herrschaften.
    »Finn, Sie haben noch gar nichts gesagt. Dabei haben Sie diesen Ball ins Rollen gebracht. Sie sind sozusagen unser serbischer Attentäter.« Hunt schwieg kurz, um die Anspielung wirken zu lassen. »Wären Sie so freundlich, uns an Ihren Gedanken teilhaben zu lassen?«
    »Ich weiß nicht, Sir.«
    »Was wissen Sie nicht?«
    »Nun, streng genommen kann ich nicht wissen, was es ist, das ich nicht weiß. Das ist philosophisch evident.« Er legte eine dieser winzigen Pausen ein, in der wir uns wieder einmal fragten, ob das subtiler Spott war oder eine Ernsthaftigkeit, die uns anderen zu hoch war. »Ja, ist nicht das ganze Tamtam darum, wen man wofür zur Verantwortung ziehen kann, so etwas wie Drückebergerei? Wir wollen einem Einzelnen die Schuld geben, um damit alle anderen reinzuwaschen. Oder wir geben einer historischen Entwicklung die Schuld, um damit Einzelne freizusprechen. Oder alles ist ein einziges anarchisches Chaos, mit denselben Konsequenzen. Mir scheint, es gibt – gab – da eine Kette individueller Verantwortlichkeiten, die samt und sonders notwendig waren, aber die Kette ist nicht so lang, dass jeder einfach die Schuld auf den anderen schieben kann. Nun könnte mein Bestreben, etwas oder jemanden zur Verantwortung zu ziehen, natürlich eher Zeugnis meiner eigenen Denkungsart als einer unvoreingenommenen Analyse des Geschehens sein. Das ist doch ein Kernproblem der Geschichtsschreibung, nicht wahr, Sir? Die Frage der subjektiven gegenüber der objektiven Interpretation, die Notwendigkeit, die Geschichte des Geschichtsschreibers zu kennen,damit wir verstehen, warum uns gerade diese Version unterbreitet wird.«
    Es trat Schweigen ein.
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